Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!

Muss der Mensch auf dem höchstmöglichen Punkt stehen, um alles überschauen zu können, was für sein Leben wichtig ist?

„Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ erstreckt sich über mehrere hundert Seiten. Wenn wir 15 Zeilen aus Bettina von Arnims opulentem, über weite Strecken erfundenen oder neu gedichteten Dialog mit dem Dichterfürsten herausschneiden, bleibt der Blick von einem Hügel. Er umfasst einen kleinen Ausschnitt gestalteter Natur, den das lyrische Ich mit hoher Wahrscheinlichkeit in Weimar entdeckt hat. Aber andere Parkanlagen haben auch weiße Häuser und eigentlich geht es ohnehin mehr um Grundsätzliches.

Wer von dem Hügel herunterschaut, will ihn nicht verlassen. Nicht für andere Länder, weite Meere, hohe Berge oder ganze Paradiese – aber auch nicht, um dem geliebten Gegenüber, das dort unten sein weißes Haus gebaut hat, ein Stück näherzukommen. Wenn wir den Titel mitzählen wird „meine Welt“ gleich viermal beschworen, aber auch der Umstand, betont, dass es Distanz braucht, um sie erkennen und genießen zu können.

Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!

Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
Hinab ins Thal, mit Rasen sanft begleitet,
Vom Weg durchzogen, der hinüber leitet,
Das weiße Haus inmitten aufgestellt,
Was ist’s worin sich hier der Sinn gefällt? –

Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
Erstieg ich auch der Länder steilste Höhen,
Von wo ich könnt´ die Schiffe fahren sehen
Und Städte fern und nah von Bergen stolz umstellt,
Nichts ist’s was mir den Blick gefesselt hält.

Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
Und könnt´ ich Paradiese überschauen,
Ich sehnte mich zurück nach jenen Auen,
Wo Deines Daches Zinne meinem Blick sich stellt,
Denn der allein umgrenzet meine Welt.

 

Die Autorin

Sie war die Juniorpartnerin in „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ und wurde auch schon für Beethovens „Unsterbliche Geliebte“ gehalten. Spekulationen braucht es freilich nicht, um in Bettina von Arnim eine der vielseitigsten, einflussreichsten und am besten vernetzten Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts zu sehen. Sie traf Goethe und Beethoven, Schumann und Brahms, Karoline von Günderode, Jacob Burckhardt, Karl Marx und den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. Sie war 20 Jahre mit dem Dichter Achim von Arnim verheiratet und widmete sich neben ihren künstlerischen Interessen auch den großen sozialen und gesellschaftspolitischen Fragen ihrer Zeit. Bettina von Arnim starb 1859 in Berlin, inspirierte die Literatur aber weit über ihren Tod hinaus – so etwa in Sarah Kirschs elfteiligem Gedichtzyklus „Wiepersdorf“ (1976), Christa Wolfs Roman „Kein Ort. Nirgends“ (1979) oder Rolf Löhrs Roman „Das Erlkönig-Manöver“ (2007).