Die Handschrift der Harzer

Die Spuren einer längst verschwundenen Form der Waldbewirtschaftung sind noch vorhanden: Geschälte, mit feinen Rinnen durchzogene Kiefernstämme genießen im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft strengen Schutz. Doch statt der Harzer (Pecher) bevölkern heute urlaubsreife Touristen die Wälder und wundern sich mitunter über diese seltsamen Rindenmuster.

Des Rätsels Lösung liefert das kürzlich wiedereröffnete und sehr sehenswerte Forst- und Jagdmuseum in Born auf dem Darß. Museumsleiterin Nicola Nibisch weiß, welche Geschichte sich hinter den von einer Art Fischgrätenmuster bedeckten Rindenflächen, den „Lachten“, verbirgt. „In der DDR war keine Kiefer vor der Harzung sicher“, beschreibt sie den enormen wirtschaftlichen Druck unter dem auch die Forstwirtschaft stand. Fehlende Devisen verhinderten den Einkauf wichtiger Rohstoffe auf den Weltmärkten. Die Harzgewinnung aus Kiefern (Pinus silvestris) war für die DDR deshalb alternativlos. In Westdeutschland kam diese Form der Waldbewirtschaftung nach 1945 nahezu zum Erliegen. Die aufwendige Harzgewinnung war angesichts kostengünstigerer, global verfügbarer Alternativen nicht mehr konkurrenzfähig.

Kiefern im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft

In der DDR wurde die Nutzung der natürlichen Wundheilungskräfte der Kiefern intensiv betrieben und kontinuierlich optimiert. So konnte der Ertrag von 1950 bis 1989 nahezu verdreifacht werden. Um den Kiefern das wertvolle Harz (Pech) zu entlocken, mussten ihnen Wunden zugefügt werden. Die Vorbereitungen begannen bereits im Winter. Mit einem Schaber wurde die Borke bis auf eine 2 mm dicke Schicht entfernt. Die derart bearbeiteten Flächen („Lachten“) waren aufgrund ihrer helleren rötlichen Farbe deutlich sichtbar und gaben diesem Arbeitsschritt ihren Namen: „Röten“.

Im nächsten Schritt wurde dann über die gesamte Lachtenlänge mittig eine senkrechte Tropfrinne gezogen, über die später der austretende Harz aus den mit einem Harzhobel „gerissenen“ Schnittrillen kanalisiert und in einen Harztopf geleitet wurde. Diese mehrheitlich aus Glas bestehenden Harztöpfe mussten in der Harzsaison von etwa Mai bis Oktober regelmäßig kontrolliert und geleert werden. Um die Harzproduktion anzuregen, wurden seit den 70er Jahren beim „Reißen“ sogenannte „Stimulationsmittel“ (z.B. Hefeextraktlösung) aufgetragen. In der Regel wurde pro Woche ein weiterer Riss hinzugefügt. Diese einwöchigen Pausen zwischen den Rissen waren wichtig, erlaubten sie dem Baum doch, Harz nachzubilden.

Echte Handarbeit

Die Harzgewinnung sei reine und schwerste Handarbeit gewesen, die jedoch gut entlohnt wurde, erzählt Nibisch. Während die Männer für das Röten und Reißen verantwortlich waren, kümmerten sich die Frauen um das Leeren der Harztöpfe. Der Inhalt musste zu zentralen Sammelbehältern gebracht werden. Auf Handschuhe verzichteten die Frauen im Umgang mit dem klebrigen Rohstoff. Die Folge waren raue und rissige Hände. Der Weg durch die bis zu zwei Meter hohen Adlerfarnbestände zu den Bäumen war äußerst beschwerlich: Feuchtigkeit, Mücken, Zecken u.v.m. Ruth Thüm, ehemalige Forstarbeiterin brachte es 2022 in einem im Museum präsentierten Zeitzeugeninterview auf den Punkt: „Das war eben körperlich auch sehr schwere Arbeit“.

Die Tätigkeit war darüber hinaus ein fortwährender Wettlauf mit der Zeit. Denn sobald das Harz aus dem Baum herausläuft, beginnt es zu kristallisieren. Aus der zu Beginn homogenen honigartigen Substanz wird rasch eine halbfeste Masse. Kontakt mit Regenwasser verstärkt diesen Vorgang. Je zäher und fester das Harz, umso mühsamer gestaltet sich der Umgang damit. Durch einen Destillationsprozess wird das Harz später in seine Bestandteile Kolophonium und Terpentinöl zerlegt. Kolophonium beispielsweise kommt in der Papierindustrie (in Papierleim), der Lack- und Farbenindustrie, der Kunststoffherstellung (Weichmacher), als Klebemittel und in Linoleum zum Einsatz. Als sogenanntes „Geigenharz“ sorgt der regelmäßige Auftrag zudem für eine ausreichend starke Haftung der Bogenhaare auf der Saite des Instruments. Terpentinöl wird zu Duftstoffen, ist in Insektiziden, Lösungsmitteln und Pflegemitteln enthalten und findet Verwendung in der Pharmazie.

Harzprodukte im Forst- und Jagdmuseum in Born a. Darß

Die vielseitigen Verwendungsmöglichkeiten von Baumharzen sind seit Jahrhunderten bekannt. So wurde Baumharz (Pech) in der frühen Steinzeit zum Befestigen der Speerspitzen verwendet. Auch die über 5000 Jahre alte Gletschermumie Ötzi hatte seine Pfeilspitzen mit Birkenpech fixiert. Harz wurde bereits im 3.Jahrtausend v.Chr. als Klebemittel verwendet, die Ägypter balsamierten ihre Mumien mit Baumharz ein. Vielfältig verwendbar zeigte sich das Baumharz auch in der Medizin – als Wund- und Heilsalbe, gegen Husten, in Seifen und als Harzpflaster.

Im Piesting- und Triestingtal

Während die Harzgewinnung nicht nur auf dem Darß, sondern in der gesamten DDR 1989 eingestellt wurde, konnte das traditionelle Handwerk der Pecherei im niederösterreichischen Piesting- und Triestingtal bis heute bewahrt werden. Die Gemeinde Markt Piesting blickt auf eine langjährige Tradition dieses uralten Handwerks zurück. Ende der 70er Jahre war zwar auch hier Schluss mit der Harzgewinnung in großem Stil. Diese Tradition aber wollten viele Menschen nicht so einfach aufgeben. So erreichte die „Arbeitsgemeinschaft Niederösterreichische Pecherstraße“ 2011 die Aufnahme des überlieferten Handwerks der Pecherei in das Nationale Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der Österreichischen UNESCO-Kommission.

Im Zeichen der Schwarzföhre (Pinus nigra) wurde 2017 der Verein „Die KEAföhrenen – Verein Freunde der Schwarzföhre und der Pecherei“ gegründet, um diese erfolgreichen Initiativen weiterzuführen. Engagierte Menschen, Betriebe und Gemeinden bündeln ihre Aktivitäten rund um die Schwarzföhre. Sie prägte eine ganze Region und vor allem die Menschen. Für Generationen von Waldbesitzern und Pechern bedeutete dieser Baum durch die Harzgewinnung und -verarbeitung die Sicherung ihrer Lebensgrundlage.

Einsetzen der Leimscharten

Die zahlreichen KEAföhrenen-Betriebe bieten inzwischen wieder viele Produkte aus dem natürlichen Rohmaterial Harz an: Räucherharz, Alpen(kau)gummi, Baumwundenbalsam, Brustbalsam. Der Trend zu regionalen Naturprodukten unterstützt diese Entwicklung und so gibt es heute wieder einige Pecher, die das Wissen um das traditionelle Handwerk der Pecherei pflegen und weitertragen, aber auch weiterentwickeln – Menschen, Handwerk und Produkte, deren frische Spuren an vielen Stämmen von Schwarzkiefern im niederösterreichischen Piesting- und Triestingtal zu finden sind.

Die Handschrift der Harzer und Pecher im Piesting- und Triestingtal weicht jedoch von den am Darß verbliebenen Lachtenmustern ab. Statt, wie in der DDR mit dem Rillenhobel, wurde hier überwiegend mit der klassischen österreichischen Methode gearbeitet, berichtet Gerhard Kogler, Obmann des Vereins „Die KEAföhrenen“. Dabei wird das auf der „Lachte“ herabrinnende Harz mit sogenannten Leitspänen oder Pechscharten in das darunter liegende Gefäß („Pechhäferl“) geleitet. Das für Ostdeutschland typische Fischgrätenmuster fehlt bei dieser Methode.

Einstemmen der Kerbe

Der Vorteil der in der DDR verwendeten Methode sei zwar, dass man sich das Setzen von Leitscharten erspart. „Aber die Nachteile überwiegen: In den Rillen bleibt relativ viel Harz zurück, der Ertrag von Rohharz ist dadurch geringer. Durch den langsameren und dünneren Fluss zur Mitte hin und dann erst nach unten, verdunsten mehr flüchtige Inhaltsstoffe, das Harz ist kristalliner als sonst. Der größte Nachteil zeigt sich dann am Ende der Saison, wenn das Scharrharz (auch Scherpech, Scherrpech genannt) mit dem Krickel vom Baum geschabt wird“, so Kogler. Die Rillen würden verhindern, dass man das an der Lachte vertrocknete Harz herunterbekommt, bzw. man müsste die Ränder der Rillen mit abschaben, wodurch ein sehr hoher Holzanteil im Scharrharz die Folge wäre.

Durch die Reaktivierung des Handwerks der Harzgewinnung bzw. Pecherei in Niederösterreich bleiben die typischen Landschaftszeichen, die „Lachten“ erhalten. Auf dem Darß werden sie in absehbarer Zeit mit den letzten noch stehenden Zeitzeugen verschwinden und damit ein wichtiges Kapitel der DDR-Forstwirtschaft aus dem Bewusstsein löschen.

Informationen/Quellen: Das ➤ Forst- und Jagdmuseum in Born auf dem Darß informiert über die Geschichte und Ökologie des heute zum Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft gehörenden Waldes. Ein separater Bereich widmet sich der bis 1989 hier betriebenen Harzgewinnung. Umfangreiche Informationen zur Geschichte der Pecherei in Niederösterreich sind auf der ➤ Homepage des Vereins „Die KEAföhrenen“ verfügbar. Die Broschüre „Pecherei und Köhlerei“ (im Piesting- und Triestingtal) wird hier als Download angeboten.