Die Heimlichkeit der Welt

Aufgelesen (29): Achim von Arnims Roman „Die Kronenwächter“.

Sie haben seinen leiblichen Vater und seinen Ziehvater ermordet, doch auf den Gedanken, dass Berthold sie hassen und verachten könnte, würden die Kronenwächter niemals kommen. Für den mysteriösen Geheimbund ist der Tuchhändler und Gelegenheitsritter nicht mehr, aber auch nicht weniger als einer von vielen Bausteinen auf dem Weg zur Restauration. Denn Berthold, seine Anverwandten, Vorfahren und Kinder stammen mutmaßlich aus dem Geschlecht der Hohenstaufen. Sie sollen demselben – rund ein Vierteljahrtausend nachdem Konradin, der letzte legitime Erbe, auf der Piazza del Mercato in Neapel öffentlich hingerichtet wurde (1268) – wieder zur Macht verhelfen.

Was nach dem Sieg über den verhassten Habsburger-Kaiser Maximilian I. geschehen soll, wissen die Kronenwächter freilich nicht. Ihr politisches Programm besteht aus morschen Parolen, in denen die Versatzstücke einer vermeintlich guten alten Zeit klappern. Die urdeutschen Ritter, deren Sporn die Treue und deren Schwert der Glauben an das ewige Bestehen der Geschlechter ist, existieren ohnehin fast ausschließlich in Erzählungen. Das gilt möglicherweise auch für die legendäre Kronenburg, denn wenn sich die Romanfiguren tatsächlich auf den Weg zu den Wächtern machen, landen sie auf heruntergewirtschafteten Anwesen wie dem verwahrlosten Schloss Hohenstock.

Die Kronenwächter setzen auf Mord und Totschlag, pflegen ein totalitäres Weltbild und sind augenscheinlich nicht in der Lage, die politische und gesellschaftliche Situation der Gegenwart positiv zu beeinflussen. Ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten sind eng begrenzt, militärische Erfolge können sie auch nicht in die Waagschale werfen, doch das alles tut ihrer Faszination keinen Abbruch. Sowohl Berthold als auch sein Mit- und Gegenspieler Anton, Bürger, Bauern und Adlige sind zumindest zeitweise den kruden Heilsversprechen von Ruhm und Reichtum erlegen.

Faust und Luther, eine männliche Wahrsagerin und die Prostituierten Dido und Semiramis

Achim von Arnims Romans „Die Kronenwächter“ blickt auf eine Welt, die sich dem sogenannten gesunden Menschenverstand immer mehr zu entziehen scheint. Schon das rein Ereignishafte kann nicht zur Gänze beschrieben werden – welchen Regeln, Gesetzen oder chaotischen Querverbindungen es gehorcht, bleibt völlig im Dunkeln. Die literarische Herangehensweise muss fragmentarisch sein, weil sie der Zersplitterung ihrer Gegenstände folgt und dennoch versucht, das äußere Erscheinungsbild historischer Ereignisse und ihren verborgenen Sinn in Übereinstimmung zu bringen. In der Einleitung des Romans stellt Arnim klar, dass die „geschichtliche Wahrheit“ für den Dichter nicht die oberste Priorität habe. Er müsse sich vielmehr um „eine geahndete Füllung der Lücken in der Geschichte“ bemühen.

Es gab zu allen Zeiten eine Heimlichkeit der Welt, die mehr wert in Höhe und Tiefe der Weisheit und Lust, als alles, was in der Geschichte laut geworden.

Achim von Arnim, der spät geborene Lückenfüller, unterzieht sich seiner selbstgestellten Aufgabe mit endloser Fabulierlust und einer eigenwilligen Begeisterung für das Groteske und Absurde. Er verquickt geschichtliche und frei erfundene Ereignisse mit historisch verbürgten und fiktiven Personen zu einem sagenhaften Flickenteppich, auf dem Faust, Mephisto und Blaubart ebenso Platz finden wie Ulrich von Württemberg, Martin Luther oder Maximilian I. Seite um Seite widmet der Erzähler dem Schicksal der braven und gutmütigen, aber leider auch übervorsorglichen Hildegard. Die Frau des Turmwächters muss gleich zweimal den Nachfolger ihres verstorbenen Gatten heiraten, „weil sie oben zu stark geworden, um die enge Windeltreppe herunter zu steigen“.

Derweil stellt der mysteriöse Grünewald neben der räumlichen auch eine erstaunliche soziale Mobilität zur Schau. Zunächst tritt er als Sänger des Herzogs von Bayern auf, dann erscheint er in Frauenkleidern, um eine wahrsagende Tirolerin zu mimen, ehe er ohne erkennbaren Grund zum Vogt des Grafen von Württemberg befördert wird und nun „in schimmernden Hofkleidern als Geschäftsmann“ betrachtet werden möchte. Angesichts solch steiler Karrieren dürfen sich die Leser nicht mehr wundern, wenn sie einige Seiten später zwei Prostituierten begegnen, die sich Dido und Semiramis nennen, aus unstillbarer Leidenschaft für den verwirrten Anton eine Kneipenschlägerei vom Zaun brechen, sich dann umziehen und in meergrüner (Dido) beziehungsweise kornblumenblauer (Semiramis) Aufmachung wieder Frieden stiften.

Eine Zukunft im Zeichen geistiger Bildung

Achim von Arnims Roman, dessen erster Band 1817 erschien, während der zweite, bruchstückhafte Teil 1854 von seiner Witwe Bettina von Arnim herausgegeben wurde, spielt nicht zufällig in der Übergangszeit von spätem Mittelalter und früher Neuzeit. Offenkundig sah der Romantiker in einer Epoche, in der Krieg, Gewalt und skrupellose Machtkämpfe tobten und jahrhundertealte Weltbilder und Glaubensgewissheiten erschüttert wurden, einen geeigneten Spiegel für seine Gegenwart. Ein klares Bild zeigt sich darin allerdings nicht. Dass Arnim sich der nationalen Einigung und Erhebung wenigstens schreibend nähern wollte, liegt auf der Hand. In seinem Erzählfluss schwimmen obskure Phantasien über die Größe und Bedeutung des vielfach geteilten Heimatlandes neben allerlei Ressentiments, antisemitischen Vorurteilen und stereotypen Erzählmustern über „Bauern“ oder „Zigeuner“.

Doch einer autoritären Männerriege will er das künftige Deutschland offenbar auch nicht überlassen. Die Protagonisten der beiden Romanteile – der Kaufmann Berthold, der Webstühle betreibt, „ohne selbst etwas davon zu verstehen“, aber auch der Maler Anton, der sich mit Diebstählen, Raufereien und Zaubertricks über Wasser hält – sind jedenfalls denkbar ungeeignet für jede politische Führungsrolle. Wer aber könnte sie dann übernehmen? Religionsvertreter sicher nicht, denn sie platziert der Erzähler immer wieder auf der untersten Stufe moralischer Verwahrlosung. Vielleicht aber jenes aufstrebende Bürgertum, das sich hier und da anschickt, einen neuen, auf Verdienst und Leistung begründeten Adel zu bilden.

Durch die letzten Notizen, die Bettina von Arnim zusammenstellte, um der interessierten Leserschaft ein Bild vom etwaigen Fortgang des Romans zu geben, schiebt sich immerhin ein Stück des roten Fadens. „Anton zerstört Hohenstaufen und die Kronenburg“, heißt es da, ehe Armin eine vage Zukunftsvision aufscheinen lässt.

Die Auflösung ist endlich, daß die Krone Deutschlands nur durch geistige Bildung erst wieder errungen werde.

Will wohl sagen: Wer seine Legitimation allein aus der Vergangenheit bezieht und immer nur zurückschaut, kann Gegenwart und Zukunft nicht zum Wohle der Menschen gestalten. Zu eben diesem Schluss dürfte Berthold schon am Ende des ersten Romanteils gelangt sein. Kurz vor seinem Tod sieht er in der Grabkammer der Hohenstaufen eine marmorne Gedächtnistafel, die den Ewig-Gestrigen an einer ihrer Pilgerstätten offen widerspricht.

Daß ein Geschlecht vergehe und das andere komme, und die Erde indessen unbeweglich bleibe und ein jegliches Ding seine Zeit und alles unter dem Himmel seine Stunde habe, dessen gedenket man nicht, wie es doch jedem geraten ist, denn die künftigen Zeiten werden alles zugleich in Vergessen bringen, was wir aufzeichnen von der Vergangenheit und was wir schaffen in der Gegenwart, denn nichts erringen wir, als die Zukunft.