Braune Relikte (35): Fragebogen der Militärregierung.
Die Alliierten traten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit dem erklärten Ziel an, Deutschland endgültig zu „entnazifizieren“. Nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 104 „zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ vom 5. März 1946 wurden verdächtigte Personen zunächst durch Fragebögen erfasst und in den Entnazifizierungsverfahren in fünf Kategorien eingeteilt.
Im Einzelnen waren das: 1. Hauptschuldige (Kriegsverbrecher), 2. Belastete (als Übeltäter zu bezeichnende Nazis), 3. Minderbelastete (geringere Übeltäter), 4. Mitläufer (nominelle Parteimitglieder) sowie 5. Entlastete und Unbelastete. Die Westalliierten betrieben die Entnazifizierung mitunter nur halbherzig. Angesichts des sich anbahnenden Kalten Krieges glaubten sie, für den zügigen Wiederaufbau des Staates nicht auf die alten Funktionseliten verzichten zu können. Viele Deutsche verschafften sich einen „Persilschein“, der ihnen trotz ihrer NS-Vergangenheit eine ‚weiße Weste‘ bescheinigte. Die Aufarbeitung der Vergangenheit zieht sich daher bis in unsere Tage. Dadurch kamen mitunter ehemalige Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten wieder in einflussreiche Posten. So belasteten beispielsweise alte Seilschaften den Aufbau der Justiz.
Ein symptomatischer Fall für den juristischen Umgang mit NS-Verbrechern in der frühen BRD ist der von Franz Bernhard Lucas (1911-1994). Lucas wurde am 15. September 1911 in Osnabrück als Sohn eines Schlachtermeisters geboren, besuchte das Gymnasium Carolinum und wechselte auf das Gymnasium in Meppen, wo er 1933 sein Abitur absolvierte. 1933 trat er auch der SA bei. In der SS (ab 1937) stieg er bis zum SS-Obersturmbannführer auf. Sein Medizinstudium schloss er 1942 in Danzig mit seiner Promotion ab. Vom Sicherheitshilfsdienst in Danzig wechselte Lucas zur SS-Ärztlichen Akademie in Graz, bevor er im Dezember 1943 nach Auschwitz kam.
Dort wurde er als Lagerarzt in Birkenau und Truppenarzt im Stammlager eingesetzt und beteiligte sich bereitwillig an Selektionen für die Gaskammer. Im Sommer 1944 wechselte er nach Mauthausen, im Spätherbst nach Stutthoff und Ende des Jahres nach Ravensbrück. Dort nahm er Sterilisierungen vor, soll aber Selektionen verweigert haben; allerdings wohl nur, um sich eine „Rückfahrkarte“ in die Nachkriegsgesellschaft zu sichern. Schließlich kam er im Januar 1945 nach Sachsenhausen, von wo aus er kurz vor Kriegsende entfloh.
Lucas wurde als Arzt im Stadtkrankenhaus Elmshorn angestellt, zunächst als Assistenzarzt und dann als Oberarzt. Schließlich wurde er Leiter der Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie. Nach Bekanntwerden der gegen ihn erhobenen Vorwürfe wurde er zunächst entlassen und arbeitete als Privatarzt. 1963 wurde er im Frankfurter „Auschwitz-Prozess“ angeklagt und am 20. August 1965 wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 1.000 Fällen zu drei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Zunächst bestritt er die Anklagepunkte, räumte dann aber nach einem Strategiewechsel ein, vier Mal bei Selektionen an der Rampe beteiligt gewesen zu sein.
In einer Neuverhandlung wurde Lucas allerdings wieder freigesprochen und am 26. März 1968 aus der Haft entlassen. 1969 hob der BGH das gesamte Urteil auf. Bei der Neuverhandlung vor dem Landgericht Frankfurt/M. erfolgte am 08. Oktober 1970 ein Freispruch mit der Begründung, Lucas habe „nicht mit Täter-, sondern nur mit Gehilfenwillen“ gehandelt. Anschließend konnte er wieder als Arzt arbeiten. Er starb 24 Jahre später.
Zu dieser Serie
Es ist die Geschichte einer Stadt, doch was hier geschah, ereignete sich auch in vielen anderen deutschen Städten. Die Serie „Braune Relikte“ basiert auf der Sammlung Nationalsozialismus, die sich im Museumsquartier Osnabrück befindet. Anhand von Objektbiografien wird die Geschichte des Nationalsozialismus mit seinen Ursachen und Folgen veranschaulicht. So entsteht ein virtueller Lernraum, der die Fundstücke einer Diktatur analysiert, um Lernprozesse für demokratische Gesellschaften zu ermöglichen.