In den vergangenen Jahren sind mehrere Romane von Alice Berend neu aufgelegt worden, ohne dass die einstige Bestsellerautorin dauerhaft ins literarische Rampenlicht zurückgekehrt wäre. Nun nimmt ein prominenter Verlag Berend wieder ins Programm. In der Reihe „Reclams Klassikerinnen“ erscheint die humoristische Berliner Milieustudie „Frau Hempels Tochter“ aus dem Jahr 1913 in einer neuen, schön gestalteten Aufmachung.
„Wäre es ein Junge geworden, hätte er etwas wie Bismarck oder Zeppelin werden müssen. Aber auch ein Mädchen konnte Glück haben.“ Wenn Frau Hempel über ihre Tochter Laura nachdenkt, kommt nicht nur ihr sozialer und gesellschaftlicher Ehrgeiz zum Vorschein. Sondern auch das Talent, die Dinge so zu nehmen, wie sie eben sind und aus allem das Beste zu machen. Die patente Portiersfrau begnügt sich nicht damit, ein Viertellos in der Klassenlotterie kreisen zu lassen. Tagaus, tagein nutzt sie jede legale Möglichkeit, um die Haushaltskasse und die drei auf Lauras Namen angelegten Sparkassenbücher aufzufüllen, in denen es schon zu Beginn des Romans von Ziffern und Nullen nur so wimmelt.
Der Erfolg bleibt nicht aus. Die geschäftstüchtige Portiersfrau kauft eine Badeanstalt, und noch bevor sie sich über den beiliegenden See, der „einer guten Bouillon mit Fettaugen“ gleicht, so richtig freuen kann, wird ihr schon eine astronomische Summe für das attraktive Bauland angeboten. Von dem Erlös können die Hempels nun selbst Hausbesitzer werden und dem ehemaligen Vermieter Bombach nacheifern, der einst völlig die Fassung verloren hatte, als er von einem Kutscher „Mensch, wo wohnen Sie?“ gefragt worden war.
„Sie haben mich nicht Mensch zu nennen. Ich bin kein Mensch“, schrie Herr Bombach. „Für Sie bin ich der Herr Hausbesitzer Bombach.“ Und er schrie Straße und Hausnummer dem Mann ins Gesicht.
Frau Hempels größter Wunsch, dass es die Tochter einmal besser haben soll als Mutter und Großmütter, die ihr Geld als Dienstmädchen verdienten, geht schließlich in Erfüllung. Allerdings braucht Laura dafür keine berufliche Perspektive. Sie trifft sich auf halbem Wege mit der gesellschaftlich abgestiegenen Grafenfamilie von Prillberg, obwohl deren Oberhaupt bei der Aussicht, mit einer Arbeiterfamilie verbandelt zu werden, zunächst so schreit, „wie wenn ihr ein Zahn ohne Kokain gezogen würde.“ Laura ist allerdings nicht weniger lern- und anpassungsfähig als ihre clevere Mutter.
Man ist, was man geworden ist. Es war Laura etwas ganz Selbstverständliches, dass sie ihren reizenden Knaben das Spielen mit den wilden Straßenkindern verbot.
„Man ist, was man geworden ist“ gehört zur schier endlosen Reihe augenzwinkernder Sentenzen, mit denen Alice Behrend den Erzählfluss unterbricht und ironische Distanz gewinnt. Die mitunter etwas holzschnittartigen, in Summe aber genau beobachteten und durchaus plastischen Porträts aus dem Berliner Klein- und Großbürgermilieu bekommen dadurch ihren humoristischen Charme. Doch hinter der zur Schau getragenen, betont gut gelaunten Naivität scheint sich bisweilen Abgründiges zu verbergen. Als Frau Hempel in der Dämmerstunde das Haus verlässt, um eine Wahrsagerin zu besuchen, prophezeit die Erzählerin: „Einer gut gekleideten Dame wird niemand eine ordinäre Zukunft anzubieten wagen.“ Ist das wirklich so?
Die großen sozialen und gesellschaftlichen Konflikte der Zeit werden in diesem Roman gleichwohl ein Stück weit übertüncht – triumphiert doch am Ende der naive Glauben, dass leistungsbereite, fleißige Menschen immer belohnt werden und ein Aufstieg in höhere Kreise jederzeit möglich ist. Trotz weiblicher Haupt- und Titelrolle ist der Roman auch weit davon entfernt, die Gleichberechtigung von Frauen zu propagieren. Kreativ und lebensklug versucht Frau Hempel nicht weniger, aber ganz sicher auch nicht mehr als sich und ihrer Familie den bestmöglichen Platz im vorgefundenen System zu sichern.
Dass dieses Vorhaben gelingen, aber auch scheitern kann, wusste Alice Berend aus eigenem Erleben. Die in einem großbürgerlichen Umfeld geborene Berlinerin musste sich nach dem Selbstmord des Vaters, der durch gewagte Börsenspekulationen sein gesamtes Vermögen verloren hatte, in deutlich bescheideneren Verhältnissen zurechtfinden. Mit ihren zahlreichen Bucherfolgen kam sie dann selbst zu erheblichem Wohlstand, doch nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten landeten die Werke der evangelisch getauften Jüdin auf der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“. 1935 musste Alice Berend Deutschland verlassen, drei Jahre später starb sie völlig verarmt in Florenz.
Ihre Romane werden heute kein Millionenpublikum mehr finden. Historisch aufschlussreich und amüsant zu lesen sind sie allerdings noch immer – vor allem dank des flüssigen, oft lakonischen Erzähltons, der ohne Zynismus und moralische Belehrungen auskommt.
Alice Berend: Frau Hempels Tochter, Reclam, 22 €