„Torfstechen im Sommer sichert eine warme Stube im Winter“: Kohle war in Ostfriesland absolute Mangelware in den Nachkriegsjahren. Der Regierungspräsident forderte die Landbevölkerung deshalb auf, Torf zu stechen. Ohne echte Knochenarbeit kein Torf und keine warme Wohnung. In den Anfangsjahren musste die Bevölkerung Niedersachsens mit vielen Widrigkeiten kämpfen. Erfolgreich – wie ein jetzt erschienener Rückblick auf die 75 Jahre seit der Gründung 1946 eindrucksvoll belegt.
Das Niedersächsische Landesarchiv verwahrt mit seinen Abteilungen in Osnabrück, Hannover, Aurich, Bückeburg Oldenburg, Stade und Wolfenbüttel etwa 100 Regalkilometer an Dokumenten zur Geschichte des Landes. Insbesondere seit der Gründung Niedersachsens im Jahr 1946 haben die Geschehnisse und Entwicklungen ihre Spuren im Archiv hinterlassen. Zum 75. Geburtstag macht das Archiv dem Land, seinen Bewohnerinnen und Bewohnern und allen historisch Interessierten nun ein lesenswertes Geschenk.
Die Lektüre erinnert an gemeinsame Rückblicke im Familien- oder Freundeskreis. Scheinbar unstrukturiert springt das Gespräch zwischen den unterschiedlichsten Themen hin und her. Dabei ergänzen sich die vielen Einzelaspekte am Ende doch zu einem aussagekräftigen Gesamtbild. Die Autoren und Herausgeber ranken ihre Geschichten um eine Vielzahl unterschiedlichster Dokumente: Schmier- und Skizzenblätter, Flugblätter, Karten, Fotos, Stimmzettel und Postwurfsendungen.
In allen Geschichten schlagen die mehr als 40 Autorinnen und Autoren einen spannenden Bogen vom Einzelfall zum großen Ganzen. Am Beispiel der (durch die Wende nicht mehr realisierten) Ausbaupläne des Grenzübergangs Helmstedt wird eindrucksvoll das Geschehen an der innerdeutschen Grenze in Helmstedt/Marienborn, dem „Ort ohne Schatten“, beleuchtet.
Eine Postwurfsendung Oeseder Vereine und Verbände dokumentiert die Proteste anlässlich des neuen Gemeindenamens Georgsmarienhütte und liefert den Anlass zu Ausführungen über die niedersächsische Gebiets- und Verwaltungsreform (1965-1978).
Die Vielfalt weiterer Themen reicht von der Landesgründung über den Umgang mit der NS-Zeit bis zu Fragen der Energieversorgung. Es geht um Politik, Kultur, Bildung, Landwirtschaft, Verkehr, Tourismus und Naturschutz. Dabei blicken die Autoren in die unterschiedlichsten Regionen Niedersachsens – nach Ostfriesland, ins Wattenmeer, nach Hannover und ins Wendland und natürlich auch in den Harz.
Auch wenn es sich um 75 einzelne Geschichten handelt, ergeben sie in ihrer Gesamtheit doch einen sehr guten Überblick über 75 Jahre Niedersachsen. Und sie wecken Lust, sich selbst auf Entdeckungsreise in die Geschichte dieses abwechslungsreichen Landes zu begeben. Vergessene Geschichten, Ereignisse und interessante Persönlichkeiten sind in den Archiven sicher noch einige aufzuspüren.
Sabine Graf / Gudrun Fiedler / Michael Hermann (Hg.): 75 Jahre Niedersachsen. Einblicke in seine Geschichte anhand von 75 Dokumenten, Wallstein Verlag, Göttingen 2021, 407 S., zahlr. Abb., € 29,90