Braune Relikte (40): Rock eines Karnevalskostüms und Beinprothese.
Die moralischen Verwerfungen der NS-Zeit haben sich tief in das kollektive kulturelle Gedächtnis eingebrannt. Umso größer war nach 1945 der Wunsch nach Zerstreuung und Normalität. Der Wiederaufbau war dabei eine ebenso willkommene Ablenkung wie kulturelle Angebote jeder Art. Diese waren wichtiger Teil einer Überlebensstrategie, die davon ablenkte, über das Geschehene nachzudenken. Kultur konnte aber genauso Raum für eine kritische Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte bieten. Die Chance dazu musste nur genutzt werden.
1945 lagen nicht nur Länder und Städte in Trümmern; auch Werte, Moral und gesellschaftliche Maßstäbe waren auf das Schwerste erschüttert. Nach dem Zivilisationsbruch und den moralischen Verwerfungen der NS-Zeit suchten Menschen in der Nachkriegszeit nach einer positiven, in die Zukunft weisenden Orientierung. Am einfachsten erschien es den meisten, über die Zeit besser zu schweigen und nur ‚nach vorne‘ zu schauen. So gerieten der „Wiederaufbau“ und das „Wirtschaftswunder“ zu den neuen positiven Leitbildern – Geschichte war gestern. Und hatte man nicht auch gelitten? Die Bilder von der Zerstörung deutscher Städte erschütterten. Nicht nur Industrieanlagen und Verkehrswege wurden angegriffen, auch die strategisch unerheblichen Innenstädte wurden systematisch zerbombt, um die deutsche Zivilbevölkerung zu demoralisieren. Verdrängt wurde allerdings, dass die Zerstörungen durch alliierte Luftangriffe nicht aus heiterem Himmel kamen, sondern in den Kriegsvorbereitungen und den Strategien der deutschen Luftwaffe ihre grausamen Vorläufer hatten. Die Stichworte lauten: Guernica, Rotterdam, Coventry, Warschau u.a.
Es war jedoch schwer, sich dies einzugestehen. Ebenso wie die verbreiteten, offen liegenden Wunden. Der Kriegsinvalide L. Lafrenz, aus dem Sauerland hatte an der Front beide Beine verloren. Seine individuell angefertigten Beinprothesen benutzte er nur äußerst selten, weil er mit einem einfachen Rollbrett schneller und beweglicher war. Als er Mitte der 1950er Jahre verstarb, verschwand mit seinem alltäglichen Anblick auch eine weitere Erinnerung an das Geschehene aus dem Stadtbild. Das erleichterte das Vergessen und förderte stattdessen die Rückkehr zur bürgerlichen Normalität. Dem Krieg mehr oder weniger heil entronnen, wollte die Bevölkerung in Ruhe wieder aufbauen, arbeiten, das Familienleben in Harmonie genießen und konsumieren. Werte der Vorkriegszeit dominierten. Politik besaß dagegen nur geringe Bedeutung.
Und nach der Gewalt des Kriegsalltags war der Wunsch nach Zerstreuung aller Art groß. Dazu gehörten Ereignisse wie die Karnevalsumzüge im Rheinland. Woher aber ein passendes Kostüm nehmen? 1946 nähte sich Elfriede Heinemeyer einen roten Karnevalsrock und als Oberteil noch einen Bolero, der später als Schuhputzlappen endete. Das Kostüm wurde mehrere Jahre lang in Köln und Düsseldorf zu Feiern getragen. Es wurde aus einer 1939 in Düsseldorf erworbenen Naziflagge genäht. Das Hakenkreuz, Hauptsymbol der NS-Diktatur, wurde zu lieblichen schwarzen Herzchen. Wie praktisch, auf diese Weise gleich etwas NS-Geschichte zu entsorgen; jedenfalls fast. Denn etwas blieb ja doch konserviert, wenn auch verdeckt, und erinnerte noch Jahre später daran, wenn man plötzlich doch einmal von unangenehmen Gedanken überrascht wurde; zum Beispiel beim Schuheputzen.
Andere setzten sich hingegen ganz bewusst mit ihren Erlebnissen auseinander, um daraus zu lernen. Etwa Hertha Hesse: „Ein Nachbar sagte später einmal: ‚Ich bin nach der Flucht ins Militär gegangen.‘ Und ich sagte im Gegenteil: ‚Nie wieder Krieg!‘ Ich habe mich in der Friedensbewegung engagiert, denn die Erinnerung an meine Flucht mit den toten Pferden und der Leiche am Wegrand, nur zugedeckt mit einem Jackett, hatte mich als Vierzehnjährige tief geprägt. Diese Kriegsgeschehnisse durften nicht wiederkehren. Dementsprechend habe ich bei meinen Söhnen darauf hingewirkt, dass sie Zivildienst leisten.“
Zu dieser Serie
Es ist die Geschichte einer Stadt, doch was hier geschah, ereignete sich auch in vielen anderen deutschen Städten. Die Serie „Braune Relikte“ basiert auf der Sammlung Nationalsozialismus, die sich im Museumsquartier Osnabrück befindet. Anhand von Objektbiografien wird die Geschichte des Nationalsozialismus mit seinen Ursachen und Folgen veranschaulicht. So entsteht ein virtueller Lernraum, der die Fundstücke einer Diktatur analysiert, um Lernprozesse für demokratische Gesellschaften zu ermöglichen.