Aufstand der Körper

15 Jahre bevor Walter Hasenclevers „Sohn“ seinen autoritären Vater niederstreckte, peitschte bereits ein folgenschwerer Schuss durch die deutsche Literatur. Seine Absenderin Helene Böhlau distanzierte sich später von dem betont revolutionären Akt, doch ihr Roman „Halbtier!“ gilt bis heute als Meilenstein der Emanzipationsbewegung. Bei Reclam erscheint nun eine Neuausgabe.

Sie darf zwar den Doktortitel ihres Mannes tragen, doch ansonsten hat die Frau des Schriftstellers Heinrich Ewald Frey nichts zu melden. In den eigenen vier Wänden entscheidet das monströse maskuline Ego über das Schicksal der Ehefrau, den Lebensweg der Töchter und Söhne, wobei letztere – als Erben der Macht – zweifellos das günstigere Los zu erwarten haben.

Auf körperliche Gewalt kann Frey verzichten, seine selbstgefälligen Tiraden, die unausgesetzten Herabwürdigungen, Beleidigungen und Drohungen reichen völlig aus, um den Rest der Familie in einem Zustand permanenter Angst und Unruhe zu halten. Einzig die halbwüchsige Isolde beginnt nach und nach ihre eigenen Wege zu gehen. Dass sie einen bürgerlichen Beruf ergreift, kann der Vater noch verhindern, doch als ihr eine Erbschaft erlaubt, sich eine unabhängige künstlerische Existenz aufzubauen, schwindet sein Einfluss dahin.

Die ernüchternde Kollision mit dem angebeteten Künstler Henry Mengersen, der später ihre „anspruchslose“ Schwester heiratet, und der Tod einer jungen Frau, die von Isoldes Bruder geschwängert und dann achselzuckend verlassen wird, machen Isolde schließlich klar, „dass sie zu der Hälfte der Menschheit gehört, die von allem Geistigen auf Erden ausgeschlossen ist, zu der verdummten, stehengebliebenen, unentwickelten Hälfte der Menschheit, die nur Körper ist (…).“

Der Gedanke, Vertreterin oder gar Botschafterin ihres ausgebeuteten, nun endlich auf seinen lange vorenthaltenen Rechten bestehenden Geschlechts zu sein, nimmt immer mehr Gestalt an und verdichtet sich zu einer Forderung, die sie stellvertretend für alle Frauen erheben zu können glaubt: „Gebt ihnen Arbeit, bei der ihnen die Seele weit wird, und ein Kind, das ihnen das Herz froh macht.“ Doch der Vater, der Bruder und vor allem Henry Mengersen stehen der Erfüllung im Weg.

Ein tiefer, ungestillter Hass gegen Mengersen war im Grund ihrer Seele.
Jahrelang hatte sie es mit angesehn, wie er ihrer Schwester, seinem Weibe, dasselbe tat wie ihr einst, wie er Maries Seele verleugnete und danach schlug, wie nach einem zudringlichen Tier. Er, der hochentwickelte Geistesmensch, konnte es nicht ertragen, neben sich ein Geschöpf zu dulden, dessen Seele leben wollte. Weil das Geschöpf Weib war, konnte er es nicht ertragen.

Als der Schwager Isolde sexuell bedrängt, greift sie zur Waffe, befreit sich aber nur für die kurze Zeitspanne, die das eigene Leben noch währt. Der hymnische, ja visionäre Schluss des Romans lässt allerdings Raum für die Hoffnung, dass über der „Welt dumpfer, dummer, matter Seelen, Halbtierseelen!“ einst die Sonne der Erlösung aufgehen könnte.

„Dieser Roman ist kein besonnener Roman“, gab Helene Böhlau 1899 freimütig zu und stellte dem Aufsehen erregenden Buch, das gerade im Berliner Verlag F. Fontane & Co. erschien, eine ausführliche Erklärung zur Seite. Und auch 14 Jahre nach dem Erscheinen von „Halbtier!“ sah sich die Autorin noch genötigt, den einen oder anderen Aspekt zurechtzurücken. So wollte sie den Eindruck, dass die Frau am geistigen Eigentum der Menschheit nicht mitgearbeitet habe, weil sie in einem permanenten Zustand der Rechtlosigkeit und Bildungsferne gehalten worden sei, korrigiert wissen. In welchem Umfang, ließ Helene Böhlau offen, gab aber zu bedenken, dass es schließlich auch „stille Taten der Seele“ gebe.

Für solch unscheinbare Einflussnahmen ist im Roman die geheimnisvolle Lu verantwortlich, die mit ihrem Mann – einem weltabgewandten Philosophen – in einiger Entfernung zur Großstadt eine nahezu ideale Beziehung führt. Gut möglich, dass die Autorin hier sich selbst und ihren Lebensmenschen Friedrich Arnd, der zum Islam konvertierte und sich Omar al Raschid Bey nannte, porträtierte. In dem Nachwort zur neuen Reclam-Ausgabe deutet Böhlaus Urenkelin Helene Falk diverse autobiographische Bezüge an.

Was die Autorin zur Zeit der Niederschrift oder Jahre später dachte und in welchem Umfang persönliche Erlebnisse ihr Schreiben beeinflussten, ändert freilich nichts an der Radikalität, mit der sie die Unterdrückung des weiblichen Geschlechts, männlichen Machtmissbrauch und die katastrophalen Auswirkungen auf Familie und Gesellschaft beschrieb. Der ungeschönte Blick, die enthüllende Sprache und kompromisslose Darstellung machten den Roman zu einem Meilenstein feministischer Literatur. Doch die Bedeutung von „Halbtier“ erschöpft sich eben nicht in seiner gesellschaftlichen Relevanz. Weite Passagen des Romans sind rasant erzählt und klug gestaltet. Figuren wie die unbeugsame, verzweifelt heroische Isolde, der immer joviale, ständig dröhnende und abstoßend selbstgefällige Vater oder die dumpfe, im stillsten Kämmerlein aufbegehrende Mutter bleiben im Gedächtnis. Böhlau entwirft auf engstem Raum eindringliche Szenen, etwa wenn die Freundin des Bruders und ihr totgeborenes Kind von Witze reißenden Medizinstudenten seziert werden.

Die Weißbeschürzten fühlten sich im Besitz strotzender Kräfte, strammer Jugend. (…) Der zerrissene, unverhüllte Körper, der hier vor frechen kalten Blicken lag, war das Weib, dem alles ohne Scheu geboten werden konnte, das Weib, das nie zur Menschenwürde noch gelangt war.

Es sollte nur noch wenige Jahre dauern, bis Gottfried Benn das Leichenschauhaus zum literarischen Schauplatz machen würde, und Böhlaus „Morgue“ ist in ihrem Roman längst nicht der einzige Vorbote des Expressionismus. Wenn Isoldes innere Monologe zum pathetischen Aufschrei oder zum provisorischen Programm gerinnen, stockt allerdings zumeist auch der Erzählfluss. Redundante Empörungsformeln drohen Handlung und Dialog mitunter zu überlagern. Doch Helene Böhlau findet auch wieder in die Szene zurück und braucht dann nur wenige Worte, um ihrem Plot eine entscheidende Wendung zu geben: „Ein scharfer, kurzer Knall – ein schwerer Fall.“

Helene Böhlau: Halbtier!, Reclam, 20 €