#lyrik: Das Fenster

Ein leeres Fenster in einem grauen Haus mag Anlass genug sein, um über die Vergänglichkeit des menschlichen Daseins nachzudenken. Doch dieser Dichter will es genauer wissen und gönnt denjenigen, die einst durch die Lichtlücke beschienen wurden, eine kurze Auferstehung.

Das Fenster dient nunmehr als Bilderrahmen, der die Bewohner früherer Tage – Alte, Junge, Kinder und Paare – noch einmal Revue passieren lässt. Doch das Glas tat seinen Dienst auch in umgekehrter Richtung, indem es den Hinausschauenden die „bunte Welt“ zeigte und ihnen eine Ahnung von der Schönheit des Lebens eröffnete.

Nun aber ist das Haus verlassen. Nur die Stimme des Dichters schaut noch in das Fenster hinein – nach draußen sieht niemand mehr. Die letzte Zeile deutet allerdings an, dass auch die Vergangenheit eine Zukunft haben kann …

Das Fenster

Du leeres Fenster hoch am grauen Haus,
Du Lücke, die man einst dem Lichte ließ,
Dem Farbenstrom von draußen und von drinnen –
Wer alles lugte schon durch dich heraus,
Den dunkler Trieb ins Dämmerdasein stieß
Zu Lust und Leid, zum Sehnen und zum Sinnen?

Wie viele müden Alten mögen hier,
Im Sorgenstuhl beschaulich vorgerückt,
Ein letztes Weilchen noch gesonnt sich haben –
Wie manche schmucke Jungfer hat aus dir
Herabgelauscht beklommen und verzückt
Dem Liebeslockruf eines kecken Knaben!

Wie oft schon ließest du den Himmel ein
Zu einem Paare, das sich still und froh
Da droben in sein Heiligtum geborgen!
Wo sind sie, alle deine Kinderlein,
Die dir im Arme grüßten mit Halloh
Den ersten Schnee, die goldnen Sommermorgen?

Sie alle, die du hier umfangen hast,
Sie schwanden fort nach kurzem Heimatswahn
Als Bilder, wechselnd in dem einen Rahmen;
Und immer neue ludest du zu Gast
Und schenktest allen deine Sonnenbahn,
Daraus sie Glück und Schuld und Schicksal nahmen!

Heut‘ bist du einsam und gedankenvoll –
Dem du zuletzt die bunte Welt gezeigt,
Den haben neulich sie herausgetragen;
Nur kahlen Wänden gibst du Licht. Wer soll
Nun in den Rahmen, der erwartend schweigt?
Doch sieh! vorm grauen Hause hält ein Wagen.

Der Autor

Hanns Theodor Wilhelm Freiherr von Gumppenberg wurde 1866 in Landshut geboren und starb 1928 in München. Der vielseitige Schriftsteller trat auch unter den Pseudonymen „Jodok“ und „Professor Immanuel Tiefbohrer“ auf, gehörte Anfang des 20. Jahrhunderts zu den renommiertesten deutschen Theaterkritikern und machte sich außerdem als Übersetzer einen Namen.
Die Parodiensammlung „Das Teutsche Dichterross in allen Gangarten vorgeritten“ (1901) war der größte Erfolg des spitzzüngigen Literaten, der aus dem bayerischen Adelsgeschlecht der Reichsfreiherren von Gumppenberg stammte und 1907 das Kabarett „Die Elf Scharfrichter“ mitbegründete.