Der Trost der Dunkelheit

Richard Flurys „Die helle Nacht“ erlebte 1935 eine einzige konzertante Aufführung, die von Radio Bern ausgestrahlt wurde. Danach verschwand die Oper für 86 Jahre in der Versenkung. Die erste Gesamteinspielung zeigt nun, dass sie weit mehr Beachtung verdient hätte.

Seit 15 Jahren peinigt ein Arzt seine Frau Tag für Tag mit demselben Verhör: Was ist in der einzigen Nacht geschehen, in der die beiden getrennt waren? Warum hat sie am darauf folgenden Tag zum ersten Mal nicht den Gottesdienst besucht? Die Antworten bekommt er nach knapp zwei Stunden und dann geschieht Unerwartetes: Die Gewissheit, dass ihn das Leben betrogen hat, befreit den Mann nicht nur von allen Rachegelüsten, sondern auch von seinen zerstörerischen Zwangsvorstellungen.

Die Nacht ist in der Oper auf reale und metaphorische Weise hell: Der Titel spiegelt einerseits das bunte Treiben, mit dem die Ankunft der englischen Prinzessin Mary, der neuen, erst 18-jährigen Gemahlin des 34 Jahre älteren Königs Ludwig XII., gefeiert wird. Gleichzeitig kommt immer mehr Licht in die Affäre der Arztgattin Solange, die vor 15 Jahren dem Werben eines unbekannten Ritters erlag.

Der Arzt, der Leben und Ehe über die Grenzen des Erträglichen hinaus belastet hat, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, sucht am Ende Trost in Dunkelheit und Vergessen: „Will keine Nacht mehr wachen / und keine tölpelhaften Fragen tun, / nicht an die Gottheit und an Menschen nicht.“

Neben dem Libretto, das auf einem Text von Paul Zifferer basiert und sich durch die vielschichten, oft widersprüchlichen Charaktere auszeichnet, überzeugt „Die helle Nacht“ vor allem durch ihre facettenreiche musikalische Gestaltung. Dabei stand Richard Flury vor ungewöhnlichen Herausforderungen, ist doch das rund 40minütige Zwiegespräch, das Arzt und Ritter im 2. Akt führen, dramaturgisch durchaus undankbar. Klare Charakterisierungen, vielfältige Spannungsbögen, Verweise und Zitate erzeugen gleichwohl ein komplexes Gesamtwerk, das auf tonaler Basis zu einer originellen und durchaus zeitgemäßen Gestaltung findet.

Mit Daniel Ochoa (Arzt), Magnus Vigilius (Ritter) und Eric Stoklossa (Robert) ist die Produktion rundum solide besetzt. Bestnoten für eine besonders empathische und farbenreiche Interpretation verdienen sich Julia Sophie Wagner (Solange) und das Göttinger Symphonieorchester unter der versierten Leitung des Raritätensammlers Paul Mann.

Dem Label Toccata Classics, dem durch die Zusammenarbeit mit Mann bereits mehrere Wiederentdeckungen von Flury-Werken zu verdanken sind, ist hier eine echte Repertoirebereicherung gelungen. Abgerundet wird die Produktion durch gleich zwei Booklets, die nicht nur das komplette Libretto abbilden, sondern auch mit einem ausführlichen, höchst informativen und gut verständlichen Kommentar des Dirigenten aufwarten. Paul Mann hofft nun, dass die Bemühungen zu einer Bühnenproduktion führen werden. Das wäre in der Tat ein reizvoller nächster Schritt.

Richard Flury: Die helle Nacht, Toccata Classics, 2 CDs