Als Grenze nur der Horizont

Der englische Romantiker John Clare (1793-1864) ist in Deutschland noch weitgehend unbekannt. Eine Übersetzung einer Auswahl seiner Gedichte von Manfred Pfister könnte das ändern. Und das zurecht, denn Clare gilt nicht ohne Grund als größter ökologischer Dichter Englands.

So weit das Auge folgen konnt‘
War da als Grenze nur der Horizont
Immens die Fläche ohne Busch und Baum
Abglanz der Unendlichkeit im weiten Raum.

So schreibt der englische Dichter John Clare in „Die Moore“, einem Gedicht, das in den 1820er Jahren in seiner Heimatregion in Northamptonshire im Osten Englands entstand – aus der auch die meisten anderen Gedichte ihre Inspiration ziehen. John Clare (1793-1864) hat diese Gegend nur selten verlassen: viermal für eine Reise nach London und ein fünftes Mal nur zwangsweise für seinen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik in Epping Forest nördlich von London, wo er zwischen 1837 und 1841 lebte. Die Landschaft seiner Geburt spielte also für Clare und seine Dichtung eine formative Rolle und ist ein Thema, mit dem er sich Zeit seines Lebens beschäftigt.

John Clare, Gemälde aus dem Jahr 1820

Im Vergleich zu anderen Namen der englischen Romantik wie William Blake, William Wordsworth, Samuel Taylor Coleridge, John Keats oder Percy Bysshe Shelley fristete John Clare auch im englischsprachigen Raum lange ein Schattendasein. Als „Bauerndichter“ mit seinem ersten Band „Poems descriptive of rural life and scenery“ (erschienen 1820) von der feinen Londoner Gesellschaft als Sensation gehandelt – sein erster Band verkaufte sich besser als Keats‘ Gedichte – wurde Clare danach genauso schnell wieder fallen gelassen. Doch als wichtige frühe Stimme eines ökologischen Bewusstseins wurde er in England spätestens seit 1993 wiederentdeckt: In diesem Jahr ist eine Gedenkplakette für ihn im berühmten „Poets‘ Corner“ in der Westminster Abbey enthüllt worden. Lange lagen nur einige wenige Gedichte in deutscher Übersetzung vor. Manfred Pfisters erster Sammelband von Clare-Gedichten auf Deutsch, erschienen 2021 unter dem Titel „A langugage that is ever green“ gibt nun auch endlich hierzulande die Gelegenheit zu einer Entdeckung dieser wichtigen Stimme der Tiere, Pflanzen und der Landschaft, in der sie existieren.

Gegen die Einhegung

Zentral für die Rolle der Landschaft in Clares Dichtung ist dabei, dass sie nie, wie so häufig in der Kunstgeschichte, als reines Gegenüber gesehen wird, als etwas anderes, das losgelöst vom Menschen existieren kann und nur Gegenstand unserer Kontemplation ist. Clare beschreibt keine idealisierte Wildnis, sondern eine bewohnte Landschaft, in der und mit der die Menschen leben. Insbesondere ist er sich der Veränderungen bewusst, die der Mensch an der Landschaft vornimmt. So ist er ein scharfer Kritiker der Praxis der Einhegung, die während seiner Lebenszeit auch seine Region erreicht. Einhegungen traten in England schon seit dem 13. Jahrhundert auf, wurden aber besonders großflächig während der Industrialisierung im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert vorgenommen. Gestützt durch Parlamentsbeschlüsse wurden in dieser Zeit mehr als 24.000 km² Land, das zuvor der allgemeinen Nutzung zur Verfügung stand, zu großen Landflächen umgewandelt, die Privatbesitz wurden. Clare prangert dies in vielen seiner Gedichte an, auch im oben zitierten Text „Die Moore“:

Eingezäunt hat Besitz nun selbst das kleinste Stück
Von Wiese, Feld zum ganz privaten Gartenglück,
Zu ergötzen mit Kleinklein den kleinen Geist
Der Mensch und Tier in enge Pferche weist.
Gesperrt auch jeder kleine zauberhafte Pfad
So süß wie scheue Nacht, wenn Tag sich naht.

Nicht nur die Nutzung der Landschaft wurde den dort lebenden Menschen untersagt, sondern jahrhundertelang genutzte Pfade waren ihnen plötzlich versperrt.

Einfahrt in Helpston

Da Clare selbst in einfachsten Verhältnissen aufgewachsen war und sich schon als Kind als Feldarbeiter und Tagelöhner verdingen musste, konnte er diese Entwicklungen aus erster Hand berichten. Wie so viele nötigte ihn die Armut auch in durchaus widersprüchliche Situationen: Trotz seiner Ablehnung der Einhegungen musste er sich sowohl als Gärtner auf dem herrschaftlichen Anwesen Burghley House als auch bei den Arbeitsgruppen, die die Hecken zur Einhegung setzten und andere verwandte Arbeiten ausführten, verdingen. Seine wirtschaftliche Situation ließ ihm keine andere Wahl.

Der Garten von Burghley House

Trotzdem sah er sich immer als Teil der Landschaft; die vielfachen Verflechtungen des Menschen mit ihr bilden ein zentrales Motiv seiner Dichtung. Insbesondere seine Gedichte über die vielen Vogelarten seiner Heimat zeigen das lyrische Ich nah am Boden, mit Vorsicht agierend und einem Blick für auch kleine Details – so zum Beispiel in „Das Nest der Nachtigall“:

Lasst leis uns schweifen den verwachsnen Pfad hinein
Der Nachtigall zu lauschen – sie wohnt grad hier
Schließt leis das Gatter, sonst flieht das scheue Tier
Sogleich aus ihrer Liebe trautem Heim.

Es ist genau diese achtsame Haltung, die es seinen Texten auch heute noch erlauben, einen neuen Blick auf die uns umgebende Landschaft und ihre Bewohner zu eröffnen. Zurecht sieht der schottische Schriftsteller John Burnside (*1955) auch die politische Kraft, die heute noch in Clares Attacken gegen die Einhegung steckt – da wir „aktuell einer Myriade neuer Einhegungen unterworfen werden: Einhegungen nicht nur von Land und Besitz, sondern auch des Himmels, des Horizonts, unserer Kommunikationsmöglichkeiten, von Wissen und Ideen, der Vorstellungskraft und selbst unserer Sinne“ (Burnside: John Clare and the new varieties of enclosure: a polemic, S.81). Es gilt nur, zusammen mit Clare und den von seinen Texten geschärften Sinnen, in die uns umgebende Landschaft einzutauchen!

Veranstaltungstipp: Am 13. Oktober 2022 findet um 18.30 in der Kunsthalle Osnabrück im Rahmen des Jahresthemas „Romantik“ eine musikalische Lesung von John Clares Texten statt. Weitere Informationen gibt es auf den Seiten der ➤ Literaturhäuser Niedersachsen.