Anders und doch gleich und doch anders

Wenn ich in meinen Schreibwerkstätten dieses Bild zeige und frage: „Was meinen Sie? Sind die Blätter in der Hecke gleich oder unterschiedlich?“ gibt es in der Regel zwei Antworten.

Antwort 1: Die Blätter sind unterschiedlich. Sieht man doch, die einen sind rot, die anderen grün. Klassische Komplementärfarben und schon Goethe hat diese beiden Farben in seiner Farbenlehre als gegensätzliche Farben beschrieben. Rot ist eine Grundfarbe, grün eine Mischfarbe. Warm und kalt.

Antwort 2: Die Blätter sind gleich, beide gehören zu einer Buche, in diesem Fall zu einer Hainbuche und einer Blutbuche. Beide Pflanzen wachsen ineinander verschlungen und bilden zusammen eine Buchenhecke am Rande eines Gartens.

So weit, so einfach. So weit, so unklar. Denn schaut man näher hin, wird es – wie so oft – erst richtig kompliziert: Antwort eins könnte man beispielsweise entgegenhalten, dass die Farben rot und grün für uns Menschen zwar sichtbar sind, wir damit aber fast eine Besonderheit darstellen. Denn nachtaktive Säugetiere zum Beispiel sind völlig farbenblind. Insekten hingegen können auch noch UV-Licht wahrnehmen, was zu ganz anderen Farbeindrücken führen dürfte.
Und nun mal um die Ecke gedacht: Wer nutzt die Hecke mehr? Wir? Oder Insekten und nachtaktive Säuger?

Wir finden das, was wir suchen!

Antwort zwei könnte man wenigstens entgegenhalten, dass die Hainbuche tatsächlich keine Buche ist. Sie zählt nämlich zu den Birkengewächsen. Was man festhalten kann: Wir finden das, was wir suchen. Suchen wir Unterschiede, finden wir diese. Suchen wir Gemeinsamkeiten, finden wir diese. Es kommt immer auf die von uns gewählte Kategorie an.

Zudem kommt es immer auf den Maßstab an, den wir anlegen. Ist dieser sehr weit, gibt es mehr Gemeinsamkeiten: Beides sind Pflanzen, beide betreiben Fotosynthese, es sind keine Tiere oder Pilze. Je enger der Maßstab wird, umso mehr Unterschiede finden wir: In der Taxonomie gehören beide Pflanzen über Klasse, Familie und Ordnung gemeinsam zu den Fagales, spalten sich dann aber auf in Betulacea (Birkengewächse) und Fagaceae (Buchengewächse). Der Blattrand der Hainbuche ist doppelt gezackt, der von der Blutbuche glatt.

Wie können wir das für unsere Geschichten nutzen? Geschichten funktionieren oft über den Konflikt, in dem zwei Motivationen aufeinandertreffen, von denen sich im Laufe der Story eine durchsetzt, die andere aufgegeben wird oder es einen Kompromiss gibt. Denkbar sind jetzt Stories, in denen sich die Konfliktlage verändert, weil sich zeigt, dass sich die Sichtweise der Figuren verändert hat.

Zerstrittene Kleingärtner, unterschiedliche Eheleute und konkurrierende Angestellte

Denken wir uns eine Geschichte aus, in der zwei Figuren Konflikte austragen. Dann merken sie plötzlich, dass sie eine größere Gemeinsamkeit haben: Vielleicht gibt es zwei Kleingärtner, die sich über die vorschriftsmäßige Form einer Hecke streiten, dann aber merken, dass ihr eigentlicher und gemeinsamer Antagonist in der Verwaltung sitzt und ihren gesamten Kleingarten in einen Parkplatz verwandeln will. Und schon sind sie Partner im Kampf für den Garten!

Oder umgekehrt, in einer Story haben zwei Figuren eine Gemeinsamkeit, merken aber dann, dass ihre Ziele doch ganz unterschiedlich sind: Ein klassisches Beispiel kann eine frisch geschlossene Ehe sein …

Oder eine Geschichte um zwei Konkurrenten. In einer Firma streiten zwei Angestellte um eine Beförderung, bis der einen Person klar wird, dass sie gar nicht wirklich die neue Position, sondern nicht mehr in einem Team mit der anderen Person sein will. Sie lässt die andere Person „gewinnen“, diese wird wegbefördert und unsere Person kann bleiben, wo sie ist. Sie hat ihre Ruhe und auf ihre Weise gewonnen.

So können wir aus Bäumen und Blättern nicht nur Ideen, sondern direkt schon Plot-Strukturen für unsere Geschichten gewinnen!