Arisierung

Braune Relikte (16): Brief an die Stammkunden eines jüdischen Geschäfts

Die Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung während des Dritten Reiches besaß auch eine wirtschaftliche Stoßrichtung. Das tradierte und geschürte Vorurteil des „reichen Juden“ war Grundlage der ökonomischen Ausgrenzung und Ausbeutung. Sie begann im Frühjahr 1933 mit antijüdischen Boykotten und erreichte mit der Pogromnacht vom 9. November 1938, als viele jüdische Geschäfte geplündert und zerstört wurden, einen traurigen Höhepunkt. Der letzte jüdische Gewerbebetrieb in Osnabrück wurde im März 1939 abgemeldet.

Neben den religiösen und antisemitischen Formen der Diskriminierung gegenüber der jüdischen Bevölkerung gab es auch eine wirtschaftliche Benachteiligung und schrittweise Enteignung. Das schon seit dem Mittelalter tradierte Ressentiment vom „reichen Juden“ legitimierte dabei die ökonomische Ausgrenzung. Dabei entbehrten die Vorwürfe wirtschaftlicher Dominanz jedweder Grundlage. Für 1932/33 wies die Steuerliste der Osnabrücker Synagogengemeinde 110 selbständige Steuerpflichtige und 45 Lohnempfänger auf.

Im reichsweiten Vergleich waren die jüdischen Gemeindemitglieder in Osnabrück bei den freien Berufen unterrepräsentiert. Sie stellten einen von 12 Bankbesitzern, zwei von 79 Ärzten, vier von 45 Rechtsanwälten und Notaren, einen von 294 Handelsvertretern, vier von 97 Agenten und die Hälfte der Pferdehändler; sie besaßen 7 von 36 Bekleidungsgeschäften, fünf von 44 Tuchhandlungen, zwei von 90 Feinkosthandlungen und zwei von 23 Haushaltungsbedarfsartikelgeschäften.

Die Ausgrenzung nahm am 1. April 1933 mit dem Boykott jüdischer Geschäfte Ärzte und Rechtsanwälte erste Züge an. Plakate an jüdischen Läden mit der Aufschrift „Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!“ und SA-Wachen vor den Geschäften prägten das Bild in den Einkaufsstraßen. Kunden, die weiterhin wie gewohnt in den „jüdischen“ Geschäften einkauften, wurden fotografiert und kurze Zeit später hingen ihre Bilder in einem im Volksmund „Judenpranger“ genannten Schaukasten des NSDAP-Ortgruppenleiters Erwin Kolkmeyer vor seinem Geschäft in der Osnabrücker Georgstraße. Im Zuge der Pogromnacht vom 9. November 1938 erreichte die „Arisierung“ einen Höhepunkt. Eine Vielzahl jüdischer Geschäfte wurde geplündert und zerstört. Die übrigen Geschäfte wurden einen Monat später zwangsverkauft. In Osnabrück wurde der letzte jüdische Gewerbebetrieb im März 1939 abgemeldet.

Zu den größeren jüdischen Geschäften in Osnabrück, die dem gesellschaftlichen Druck bereits vor der Reichspogromnacht nachgaben, gehörte die Wild-, Geflügel-Großhandlung und Mästerei von Julius Cantor (* Osnabrück 1880). Die Geflügelmastanstalt befand sich an der Atterstraße 109 beim Eversburger Bahnhof, während die Delikatessengroßhandlung in der Hasestraße 29 lag. Cantor gab 1936 sein Unternehmen auf, meldete sich im Juli in Osnabrück ab und emigrierte mit seiner Frau Elfriede (geb. Nathan, * Langenberg 1882) nach Palästina. Dadurch konnten beide dem Holocaust entgehen.

Cantors Betrieb übernahmen die Kaufleute Heinrich Munsberg jun. und Heinrich Munsberg sen. sowie Cantors ehem. Prokurist Wilhelm Morgenstern unter der Firma „H. Munsberg jr. Kommanditgesellschaft“. Mit dem vorliegenden Schreiben vom 18. Mai 1936 warb Munsberg jun. bei Cantors Kundenstamm für die Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen: „Unter Übernahme der gesamten deutschen Gefolgschaft haben wir an derselben Stelle ein Geschäft dergleichen Art und in gleichem Umfange, wie es dort betrieben wurde, errichtet“. Das Schreiben schloss er mit „Heil Hitler!“

 

Zu dieser Serie
Es ist die Geschichte einer Stadt, doch was hier geschah, ereignete sich auch in vielen anderen deutschen Städten. Die Serie „Braune Relikte“ basiert auf der Sammlung Nationalsozialismus, die sich im Museumsquartier Osnabrück befindet. Anhand von Objektbiografien wird die Geschichte des Nationalsozialismus mit seinen Ursachen und Folgen veranschaulicht. So entsteht ein virtueller Lernraum, der die Fundstücke einer Diktatur analysiert, um Lernprozesse für demokratische Gesellschaften zu ermöglichen.