Auf der Möbiusschleife

Ein neuer Roman, aber kein neues Thema: Peter Stamm beleuchtet in „Das Archiv der Gefühle“ die nächste Lebenskrise eines schwermütigen Zeitgenossen.

Der Ich-Erzähler will nicht, dass sich etwas ändert, obwohl sein Leben ganz offenkundig keine Erfolgsgeschichte ist. Die Anstellung als Archivar eines Pressehauses hat er an die Digitalisierung verloren, seine Jugendliebe Franziska ist im Laufe der Jahrzehnte verloren gegangen und immer nur unvollkommen ersetzt worden.

Doch Stamms Protagonist macht einfach weiter. Das Archiv, das niemand mehr benutzen will, wandert in den Keller des Elternhauses, in dem die Außenwelt fortan geordnet und katalogisiert wird. Eine „Akte zum Thema Geräusche des Wassers“ will der Mittfünfziger anlegen, eine über die Geräusche der Vögel im Flug und vielleicht sogar eine über den „Dabeiseienden“.

„Sich dem Vergehen der Zeit zu widersetzen, sich nicht mitreißen zu lassen vom Strom der Veränderungen. Er ist, als lebte ich in meinen Erinnerungen wie in diesem Haus, in einer ewigen Gegenwart, in der nichts verschwindet, nur alles ganz allmählich verblasst, verstaubt, sich auflöst.“

Doch als Franziska, die sich als Sternchen am Schweizer Schlagerhimmel den Künstlernamen Fabienne zugelegt hat, wieder in seinem Gesichtskreis auftaucht, gerät die Konstruktion ins Wanken. Er habe immer öfter das Gefühl, sich wie auf einer Möbiusschleife endlos im Kreis zu drehen, lässt uns der Erzähler wissen – und im Gegensatz zu früheren Jahren scheint ihn diese Passivität plötzlich zu stören. Im Archiv entstehen Lücken, aktuelle Zeitungsmeldungen werden nicht mehr rubriziert, sondern zu Flugzeugen und Origamifiguren verarbeitet, bis eines Tages ein Container vor dem Haus steht. Der Archivar zerstört seine gigantische Sammlung ebenso gezielt und emotionslos wie er sie aufgebaut hat.

Gleichzeitig wird der Gazevorhang, den Stamm vor das Erzählte spannt, immer dichter. Ob dahinter tatsächlich ein neues Leben beginnt oder wieder nur Möglichkeiten und Alternativen erwogen werden, bleibt offen, auch wenn der Ich-Erzähler zuletzt einen durchaus optimistischen Blick in die Ferne richtet.

Anderen beim Leben zuschauen

Peter Stamm gehört ohne jeden Zweifel zu den bemerkenswertesten Schriftstellern der Gegenwart. Seine Themen treffen den Nerv der Zeit, seine Figuren sind plastisch und tiefenscharf, die klare, unaufgeregte, immer zum Punkt drängende Sprache fasziniert auf Anhieb.

Doch diese Feststellung gilt nicht nur für Stamms neuesten Roman. Das wäre wenig problematisch, wenn sich nicht auch der Plot, der Erzählton und die Zielrichtung dieses Textes mit vorangegangenen überlagern und nun – selten, aber doch nicht mehr überlesbar – auf durchaus ermüdenden Allgemeinplätzen enden würden.

„Mein ganzes Leben kommt mir plötzlich elend vor, es scheint mir, als hätte ich gar nie wirklich gelebt, als hätte ich immer nur anderen beim Leben zugeschaut und darauf gewartet, dass etwas geschieht. Und nichts geschah.“

Stamm mag Querverweise aller Art, doch die Lesenden müssen ihm da nicht immer folgen. Schon gar nicht, wenn sie irgendwann kaum mehr wissen, ob sie schon im „Archiv der Gefühle“ oder immer noch „An einem Tag wie diesem“ unterwegs sind, jenem Roman aus dem Jahr 2006, in dem ein Alter Ego des jüngsten Stamm-Helden seine bürgerliche Existenz über Bord wirft, um mit seiner Jugendliebe, die ebenfalls Fabienne heißt, noch einmal ganz von vorn anzufangen.

Die Möbiusschleife hat eben ihre Tücken – nicht nur für den Protagonisten.

Peter Stamm: Das Archiv der Gefühle, S. Fischer Verlag, 22 €