Aufgeschrieben aus Ruinen

Der antifaschistische Roman „Jeder stirbt für sich allein“ von Hans Fallada war ein weltweiter Erfolg. Unter welch prekären Umständen der Autor dieses Werk verfasst hat, ist allerdings nur wenigen Menschen bekannt. Oliver Teutsch, Redakteur der „Frankfurter Rundschau“, war derart fasziniert von diesem Roman, dass er sich auf Spurensuche begeben – und schließlich selbst einen Roman über die Entstehungsgeschichte geschrieben hat.

Berlin ist völlig zerbombt. Das Gros der Intellektuellen befindet sich im Exil, einige kehren zurück in die einstige Kultur-Metropole, einige andere haben die Zeit des Nazi-Regimes in Deutschland verbracht. Der neu gegründete Kulturbund unter der Leitung von Johannes R. Becher – dem späteren Texter der DDR-Nationalhymne – und der Aufbau-Verlag stehen in den Startlöchern, um einen Neubeginn zu wagen. Vor der Kulisse zerstörter Häuser, Schwarzmärkte und der sich neu etablierenden Sektoren beauftragt Becher den Romancier Rudolf Ditzen – besser bekannt als Hans Fallada – mit der Erschaffung des ersten antifaschistischen Romans der Nachkriegszeit.

Bekannt und geschätzt für seine geistreich gezeichneten Romanfiguren, soll er unbedingt Teil dieses Projekts werden. Als Textvorlage soll eine Akte aus dem Gestapo-Archiv dienen. Bei der Umsetzung gibt es jedoch einige Herausforderungen zu meistern. Denn Hans Fallada hat seit einigen Jahren nichts Brauchbares zu Papier gebracht – und ist darüber hinaus schwer morphiumsüchtig und Alkoholiker.

Berlin in der Nachkriegszeit

Mit dem Roman „Die Akte Klabautermann“ hat Oliver Teutsch ein Werk geschaffen, in dem er seiner eigenen Faszination für die Umstände, unter denen der Welterfolg „Jeder stirbt für sich allein“ von Hans Fallada entstanden ist, Ausdruck verleiht. Teutsch verpackt die historischen Tatsachen in einen atmosphärisch-dichten Erzählbogen, der durch fiktive Elemente gekonnt abgerundet wird.

Sowohl Literaturbegeisterte als auch Liebhaber historischer Romane kommen hier voll und ganz auf ihre Kosten. Denn Oliver Teutsch lässt das Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit zwischen zwei Buchdeckeln auferstehen: Er zeigt die Sorgen und Nöte, die die Menschen in ihrem Alltag haben. Er gibt aber auch tiefgreifende Einblicke in die Zeit des Wiederaufbaus und des wieder aufblühenden Literatur- und Journalismus-Betriebs.

Durch pointiert ausgearbeitete Szenen erzählt er von der intensiven Aufbruchstimmung dieser Tage, dem Erfindergeist und Improvisationsgeschick einer Stadt, die sich von den Erlebnissen der vergangenen Jahre lösen will. Dass dies nicht ohne Kontroversen erfolgen kann, verschweigt Oliver Teutsch keineswegs. Vielmehr bindet er Elemente ein, die das Bestreben um eine Entnazifizierung thematisieren.

Diskurse über Haltung, Handeln und Exil

Ein besonders interessanter Kniff sind hier die Gespräche der Protagonisten, in denen über bestimmte historische Gegebenheiten und vor allem über Persönlichkeiten des kulturellen Lebens gesprochen wird. So wird beispielsweise die Positionierung Gottfried Benns während der Hitler-Herrschaft diskutiert. Hans Fallada begegnet Benn im Roman in seiner Rolle als Arzt und hört somit auch seinen Standpunkt. Über die Bedeutung der deutschen Literatenriege wird ebenso debattiert.

Durch die Diskussion der Haltung von Autoren, die sich bewusst für einen Verbleib in Deutschland oder aber für das Exil entschieden haben, wird das Thema auf eine Metaebene geführt: Auch der Rezipient wägt die im Roman diskutierten Argumentationen und Ansichten der ehemals wichtigsten Intellektuellen gegeneinander ab. Auf diese Weise schafft es Oliver Teutsch, viele Standpunkte greifbar und nachvollziehbar zu machen. Eine grandiose Leistung, für die allein sich die Lektüre von „Die Akte Klabautermann“ lohnt.

Vor allem sind es aber die feinen Charakterstudien, die Oliver Teutsch auf gerade einmal 309 Seiten zu bannen vermag. Als Leser erhalten wir beispielsweise Einblicke in die Psyche eines vom Morphium gezeichneten Menschen, der zahlreiche weitere Baustellen hat, an denen er gleichzeitig arbeitet. So leidet Hans Fallada unter anderem darunter, sich nie als Widerstandskämpfer betätigt zu haben. Er hadert mit dem Umstand, dass gerade er nun die Akte Klabautermann zu einem antifaschistischen Roman aufbereiten soll. Er versucht sich immer wieder einzureden, dass ihn der Stoff nicht packe. Dennoch ist die Ambivalenz in Hinblick auf den beauftragten Roman deutlich zu erkennen. Es braucht zahlreiche Zwischenfälle und Entwicklungen, bis Hans Fallada schließlich doch sein großes – und letztes – Werk „Jeder stirbt für sich allein“ auf den Weg bringt.

Ausblick auf DIE Literatur-Wiederentdeckung der 2010er-Jahre

Besonders schön ist, dass Oliver Teutsch ein wenig Werkgeschichte verpackt. So wird im Rahmen einer Szene, die rund 60 Jahre nach der Erstveröffentlichung spielt, erwähnt, dass „Jeder stirbt für sich allein“ ursprünglich in einer stark lektorierten Variante erschienen ist. Ein Verleger stellt in den Raum, dass der Originalstoff doch noch irgendwo zu finden sein müsse. Somit gibt er einen Querverweis auf die Neuauflage des Romans in erstmals ungekürzter Fassung, die 2011 im Aufbau-Verlag erschienen ist.

„Die Akte Klabautermann“ ist jedem zu empfehlen, der in die Stimmung und Lebensrealität der Zeit nach dem unmittelbaren Kriegsende eintauchen, sich mit dem Aufbau einer neuen Gesellschaft beschäftigen oder aber Einblicke in die Seelenwelt und das Engagement von Menschen, die sich durch ihr künstlerisches Schaffen dem Staat verpflichtet fühlen, gewinnen möchte. Der Roman überzeugt durch seinen Spannungsbogen und den gelungenen Spagat zwischen Rahmenhandlung und Protagonisten.

Lediglich an einigen Stellen hätte der Stoff ein wenig gestrafft werden können. So wird der Karrierebeginn von Hildegard Knef, die im Roman eine Zeit lang Tür an Tür mit Hans Fallada wohnt, ein wenig zu umfassend ausgeführt. Andererseits spielte die Knef in den 70er Jahren die Hauptrolle in einer der Verfilmungen von „Jeder stirbt für sich allein“. Insofern schließt sich hier der Kreis der Künstler- und Literatenszene, die Deutschland kulturell neu aufbauten.

Oliver Teutsch: Die Akte Klabautermann, Dielmann Verlag 2022, 20 €