Aufgelesen (2): Eugenie Marlitts Roman „Reichsgräfin Gisela“.
Im weißen Schloss gehen die Lichter aus. Der einstige Schlossherr, der seinem Schurkenleben selbst ein vorzeitiges Ende gesetzt hat, liegt tot in den Buketten, und die junge Reichsgräfin Gisela, die den Nachstellungen des Bösewichts gerade noch entkommen ist, eilt zum nächstgelegenen Pfarrhaus, um sich hier endgültig zu dekontaminieren.
Kurze Zeit später wird sie an die Brust ihres Geliebten sinken, der die morsche Adelsgesellschaft in ihre Grenzen gewiesen und eindrucksvoll demonstriert hat, dass Schönheit, Reichtum und moralische Integrität mittlerweile vornehmlich im aufstrebenden Bürgertum beheimatet sind.
Das vorliegende Buch baut sich auf über den Grundideen der Humanität, es versucht die Menschenliebe zu erwecken in Gemütern, die infolge angeborenen Hochmuts und falscher Erziehung völlig vergessen, daß sie einen himmlischen Schöpfer, ein Vaterland, ein Jenseits mit ihren Brüdern gemein haben, daß sie nur Glieder, mit nichten aber Störer und willkürlich hemmende einer Kette sein sollen, deren Anfang und Ende in Gottes Hand liegen.
Eugenie Marlitt, die sagenhafte Bestsellerautorin, die von Wissenschaft und Feuilleton mit Vorliebe unter dem Stichwort „Trivialliteratur“ oder gleich als „saccharinsüße Kitschtante“ abgeheftet wird, hat selbst durchaus ambitionierte Vorstellungen von dem Wert und der Wirkung ihrer Arbeit. Jedenfalls in pädagogischer Hinsicht, die für sie entscheidender ist als die Frage der ästhetischen Qualität.
Auch wenn der Kollege Theodor Fontane „Personen“ wie Eugenie Marlitt „gar nicht als Schriftsteller gelten“ lassen will, spiegeln ihre Romane die großen gesellschaftlichen Verwerfungen, die Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert erschüttern: den unaufhaltsamen Vormarsch der Industrialisierung, die Auseinandersetzungen zwischen Adel und Bürgertum, den Glaubwürdigkeitsverlust von Klerus und Militär und selbstredend die Emanzipationsbestrebungen des weiblichen Geschlechts.
Eugenie Marlitt serviert diese komplexen Themen kleidsam und wohldosiert, und das Publikum dankt ihr das Bemühen um ein übersichtliches Weltbild mit anhänglicher Liebe und wachsender Begeisterung. „Goldelse“ (1866), „Das Geheimnis der alten Mamsell“ (1867), „Das Heideprinzeßchen“ (1871), „Im Hause des Kommerzienrats“ (1877) oder „Die Frau mit den Karfunkelsteinen“ (1885) tragen maßgeblich dazu bei, dass die Familienzeitschrift „Die Gartenlaube“ ihre Abonnentenzahl in 20 Jahren vervierfachen kann und um 1885 schließlich die stolze Zahl von 375.000 regelmäßigen Lesern erreicht.
Die Autorin und ihre Werke sind schließlich so populär, dass mit ihnen allerorten Grüße und Nachrichten dekoriert werden: Allein die von Prof. Dr. S. Giesbrecht angelegte Sammlung historischer Bildpostkarten der Universität Osnabrück enthält ein rundes Dutzend Marlitt-Motive.
Das Verdrehen der Arbeiterköpfe
Der 1869 erschienene Roman „Reichsgräfin Gisela“ kann infolge der vielen moralisierenden Betrachtungen heute sicher nicht mehr als ungetrübtes Lektürevergnügen durchgehen. Der dokumentarische Wert ist dagegen beträchtlich. Denn gerade wenn die Marlitt holpert und ihre zwischen überraschendem Esprit und belangloser Schablone hin- und herwechselnden Naturbeschreibungen oder Charakterporträts unterbricht, wird es historisch interessant. Wie in einem Brennglanz formulieren sich hier die Machtansprüche des aufstrebenden Bürgertums, aber auch fremdenfeindliche Ressentiments und Rollenklischees, die Deutschland noch lange zu schaffen machen werden.
Freilich überwiegt der progressive Eindruck. Klagen über das „waffengesegnete Jahrhundert“ wechseln mit eindringlichen Forderungen nach religiöser Toleranz, die manche Zeitgenossen als offene Provokation empfinden. Aber die Marlitt schreckt auch vor einer virtuellen Umgestaltung der Gesellschaft nicht zurück. In „Reichsgräfin Gisela“ werden den Arbeitern mit materiellen Leistungen und Bildungsprogrammen „dergestalt die Köpfe verdreht, dass sie buchstäblich nicht mehr wissen, was unten und oben ist.“
Die Rache der DDR
Solche revoluzzerhaften Untertöne sind umso bemerkenswerter, als die 1825 in Arnstadt geborene Friederike Henriette Christiane Eugenie John von klein auf gelernt hat, wie die Gewichte im vordemokratischen Zusammenleben verteilt sind. Immerhin verdankt die Kaufmannstochter der Fürstin Mathilde von Schwarzburg-Sondershausen nicht nur ihre Ausbildung zur Sängerin, sondern – nachdem sie die Opernkarriere wegen eines Gehörleidens aufgeben muss – auch die Anstellung als hochherrschaftliche Vorleserin und Gesellschaftsdame. Erst als sich die Fürstin diese Annehmlichkeit aufgrund eigener finanzieller Probleme versagen muss, beginnt die Marlitt ihre beispiellose Karriere, die ihr neben dem hohen Bekanntheitsgrad so viel Geld beschert, dass sie sich in ihrer Geburtsstadt die „Villa Marlittsheim“ errichten lassen kann.
Die Krönung des persönlichen Lebensglücks bleibt ihr gleichwohl versagt. Die literarische Wedding-Planerin ist selbst nie verheiratet und muss die letzten Jahre, an schwerer Arthritis leidend, im Rollstuhl, verbringen. Sie stirbt 1887 und sorgt noch posthum für ideologische Auseinandersetzungen. Den Kulturpolitkern der DDR geht ihr Klassenbewusstsein nicht weit genug, sodass ihr Denkmal in Arnstadt 1951 entfernt wird. Doch zu guter Letzt überlebt die Idee der Gartenlaube auch noch die Heilsversprechen des real existierenden Sozialismus. Seit 1992 erinnert der Gedenkstein nun wieder an „DIE“ Marlitt.
Literaturnachweis Eugenie Marlitt: Reichsgräfin Gisela, Frankfurt a.M. 1974. Bildnachweise Teaserbild: Titelblatt „Die Gartenlaube (1853), Bild Marlitt: Bild aus „Die Gartenlaube“ (1887), S. 473 – wikimedia