Ballett der Verlassenen

Ein verliebter Novize kehrt seinem Kloster Hals über Kopf den Rücken, muss dann aber feststellen, dass es sich bei der Angebeteten um die Mätresse des Königs handelt. Als er reumütig zurückkehrt, folgt ihm die Geliebte und stirbt in seinen Armen … Dass es nicht viel Stoff braucht, um daraus eine große Oper zu machen, bewies Gaetano Donizetti auch mit seinem Spätwerk „La Favorite“. Dass die rund dreistündige Grand opéra das Publikum immer noch begeistern kann, zeigt die Neuinszenierung von Valentina Carrasco an der Donizetti Opera Bergamo.

„La Favorite“ wurde lange Zeit vorwiegend in der italienischen Fassung gespielt, die nicht nur dramaturgische Schwierigkeiten aufweist, sondern auch die harsche Kritik an katholischer Kirche und bürgerlichen Moralvorstellungen deutlich entschärft. Das Teatro Donizetti entschied sich bei seiner Neuproduktion mit der Opéra National de Bordeaux erwartungsgemäß für die ursprüngliche „Favoritin mit e“ in der kritischen Edition von Rebecca Harris-Warrick (1997).

Zweifellos eine gute Idee und auch Regisseurin Valentina Carrasco hat einen sehr überzeugenden Einfall. Er bezieht sich auf das zwanzigminütige Ballett, das ein durchaus integraler Bestandteil der französischen Fassung ist, von vielen ihrer Kollegen aber kurzerhand gestrichen wird. In Carrascos szenischer Aktion beschäftigen sich gut zwei Dutzend ältere Damen mit Vorbereitungen für einen Ball, zu dem sie gar nicht eingeladen sind. Es handelt sich offenbar um die in die Jahre gekommenen und deshalb aussortierten Favoritinnen, Randexistenzen einer Gesellschaft, die mit ihnen nicht mehr viel zu tun haben will.

Javier Camarena, Florian Sempey, Annalisa Stroppa (v.l.)

Die Szene ist gespickt mit tragikomischen Momenten, die vom Ende des 2. Akts in beide Richtungen der Oper strahlen. Denn auch die drei Hauptfiguren nehmen trotz aussichtsreicherer Machtpositionen nur bedingt am Fest des Lebens teil. Léonor de Guzman führt im Schatten der rechtmäßigen Königin ein weitgehend ereignis- und trostloses Dasein, aus dem Alphonse XI. sie aber unter keinen Umständen entlassen will. Denn auch der König ist ein Getriebener, der den Sinn des Lebens irgendwo zwischen Staatsräson, permanenten kriegerischen Auseinandersetzungen, ungezügelten Leidenschaften und päpstlichen Drohungen verloren hat. „Léonor! Viens, j’abandonne dieu, mon peuple avec mon trône;“, behauptet er zu Beginn des 2. Aktes. „Ohne Gott, Volk und Krone“ würde Alphonse gerne weitermachen, doch den Bruch mit Herkunft und Konvention wagt er nicht. Ebenso wenig wie Fernand, der sich zunächst mit großer Emphase gegen Religion und Kirche wendet, im entscheidenden Moment aber dann doch lieber ins Kloster zurückkehrt.

Valentina Carrascos Inszenierung hätte die zahlreichen psychologischen, moralischen, gesellschaftlichen und politischen Verstrickungen, die „La Favorite“ aus dem historischen Beziehungsdrama um Leonor Núñez de Guzmán und König Alfons XI. von Kastilien entwickelt, an einigen Stellen sicher noch entschiedener aufschlüsseln können – und das Bühnenbild von Carles Berga und Peter van Praet kommt über konventionelle Kulissen kaum hinaus. Auf der anderen Seite bietet die Bühnensituation Solisten und Chor eine gute Ausgangslage für starke musikalische Darbietungen.

Annalisa Stroppa bekommt hier eine weitere Paraderolle für ihren wandlungsfähigen und auch über lange Strecken belastbaren Mezzosopran. Ein etwas raueres Timbre hätte die Favoritin vielleicht noch glaubwürdiger gemacht, alles in allem gelingt der Italienerin aber eine eindringliches Rollenporträt. Das gilt in ähnlicher Weise für Javier Camarena, der die opulente Partie des Fernand mit begrenzten schauspielerischen Mitteln, aber strahlendem Tenor meistert, und den im Verlauf der Oper immer voluminöseren Bariton von Florian Sempey, der den wankelmütigen König gibt. Das Orchestra Donizetti Opera bringt die Schönheiten der Partitur unter der Leitung von Riccardo Frizza nachhaltig zur Geltung.

Gaetano Donizetti: La Favorite, Blu-ray, Dynamic