Entspannt im eigenen Bett liegen und einer Opernpremiere lauschen. Schon 1881 ist dies dank des Theatrophons in Echtzeit und in Stereo möglich. Auch der Schriftsteller Marcel Proust zählt um 1900 zu den weit über 1.000 Kunden der 1889 gegründeten Pariser Compagnie du Théâtrophone. Noch sind die Tonqualität bescheiden und eine Bildübertragung nicht möglich, die ersten Schritte in Richtung Livestream und Public Viewing sind jedoch vollbracht.
Seine Premiere erlebt das Theatrophon im Rahmen der Internationalen Elektrizitätsausstellung im Pariser Industriepalast 1881. Dreimal wöchentlich fiebern Tausende Ausstellungsgäste der abendlichen Liveübertragung von den Bühnen der Opéra Garnier und des Théâtre Français entgegen. Dank zweier Hörmuscheln lässt sich die Musik von den etwa zwei Kilometer entfernten Aufführungsorten sogar in Stereo genießen. Das Publikum ist begeistert angesichts der über diese Entfernung übertragenen Liveatmosphäre. Hört es doch neben den Akteuren auf der Bühne auch die Reaktionen des Publikums vor Ort.
Am Bühnenrand des Theaters installiert Clément Ader – der Franzose gilt als Erfinder des Theatrophons – 40 Mikrofone. Für die Interessenten stehen im Industriepalast jeweils zwei Hörmuscheln zur Verfügung, die mit zwei verschiedenen Mikrofonen verbunden waren. Die unterschiedliche Positionierung der beiden Mikrofone rechts und links vor der Bühne ermöglicht erstmals eine stereophone Tonübertragung. Ader schirmt die Mikrofone aufwendig gegenüber Bühnenvibrationen, Schlaginstrumenten und Blechbläsern sowie dem durch die Gaslampen verursachten Luftzug ab.
Für die normale Bevölkerung wird im Mai 1883 eine Demonstrationsanlage des Theatrophons im Pariser Musée Grévin eingerichtet, mit der sich Aufführungen des Varietés Eldorado verfolgen lassen. Ansonsten ist diese neuartige Form des Kulturgenusses allein der wohlhabenden Schicht vorbehalten. Mit der 1890 gegründeten Compagnie du Théâtrophone versuchen zwei Unternehmer das Klangerlebnis zu Geld zu machen. Es werden öffentliche Münzgeräte aufgestellt (um 1892 etwa 100) und vergünstigte Abonnements verkauft (Jahrespreis 180 Franc zzgl. Zusatzgebühr je Hörabend) – bis 1893 immerhin mehr als 1.300. Privathaushalte, die über einen eigenen Telefonanschluss verfügen, lassen sich über eine zentrale Vermittlungsstelle in die gewünschte Aufführung durchstellen. Vorausgesetzt es sind noch freie Kapazitäten vorhanden. Die Anzahl möglicher Zuhörer hängt ab von der Anzahl der auf der Bühne installierten Mikrofone.
Der Autor Lev Bratishenko hat sich in einem ➤ Beitrag für das Kulturmagazin des Goethe-Instituts ausführlich mit dem Vorläufer von Radio und Streamingdienst beschäftigt. Hier erfahren wir auch etwas über die äußere Gestaltung und die Platzierung im öffentlichen Raum:
Die Theatrophon-Empfänger waren massiv gebaut und entsprachen den damaligen ästhetischen Vorstellungen für elektronische Geräte: lackierte Holzmöbelstücke mit Messingbeschlägen und Drähten, die mit Wachs oder Stoff isoliert waren. Die Theatrophon-Firma stellte münzbetriebene Empfänger in Cafés und Hotellobbys auf, wo man für 50 Centimes oder einen Franc fünf bis zehn Minuten lang etwas live hören konnte. Auf diesen öffentlichen Kästen befand sich eine Anzeige der Spielstätte, mit der man gerade verbunden war, und die der Betreiber von Zeit zu Zeit wechselte.
Lev Bratishenko
In Deutschland und Österreich kann sich das Theatrophon nicht durchsetzen. Einzig in Großbritannien erlangt es unter der Bezeichnung Electrophone größere Bedeutung. Doch bereits in den 20er Jahren läutet der aufkommende Rundfunk das Ende des Theatrophons ein. Der Wegbereiter des modernen Hörfunks, von Streamingdiensten, Lifestream und Public Viewing gerät darüber rasch in Vergessenheit.