„Muffrika“ ist auf keiner Landkarte verzeichnet und doch wussten einst viele Menschen, wo es zu finden war. Weit im deutschen Westen, nahe der niederländischen Grenze lag die Region, die schließlich mit Selbstironie auf den Spottnamen reagierte. Unser Beitrag aus dem Stadtarchiv Lingen erzählt die Geschichte von „Muffrika“, die in der Gründung eines Kegelvereins gipfelte.
„Ich bin in einer als ganz reizlos verschrieenen Gegend geboren und aufgewachsen, im sogenannten ‚Muffrika‘ (…). Dieser Landstrich liegt an der mittleren Ems und erstreckt sich im Westen bis an die holländische Grenze. Meppen (…) und Lingen an der Ems, mein lieber Heimatort, sind seine beiden Städte.“ Mit diesen Worten beschrieb Hermann Raydt, der 1851 in Lingen geborene Direktor der Öffentlichen Handelslehranstalt Leipzig, 1912 seine eigene Herkunft.
„Muffrika“ ist ein Kofferwort, gebildet aus den Worten „Muffe“ und „Afrika“. Das Wort „Afrika“ ist eine Anspielung auf die damals in der Region herrschende Armut. Die niederländische Bezeichnung „Mof“ für einen deutschen Immigranten lässt sich bereits für das 16. Jahrhundert belegen. Verdams mittelniederländisches Handwörterbuch definiert „Moffe“ bzw. „Muffe“ als Scheltwort für Fremdlinge. Und Grimms Wörterbuch kennt das Wort „muff“ nicht nur als „Spottwort der Holländer wider die Nidersachsen“, sondern auch als Bezeichnung für einen mürrischen, verdrossenen, wortkargen Menschen.
Die emsländische Dichterin Emmy von Dincklage stellte 1858 fest, dass die Einwohner der niederländischen Provinz Groningen „die arbeitskräftige deutsche Mannschaft, welche Jahr für Jahr als Zimmerleute, Mäher usw. zu ihr ausgewandert, schlechtweg ‚Muffen‘ nannte“. Sie führte dies aber darauf zurück, dass die Soldaten des münsterischen Fürstbischofs von Galen im 17. Jahrhundert Pelzmuffen, also Fausthandschuhe trugen.
Kose- und Schimpfwort
Bereits seit Anfang des 17. Jahrhunderts machten sich zahlreiche Wanderarbeiter vor allem aus den westlichen Regionen Niedersachsens im Frühjahr auf den Weg in die Niederlande auf der Suche nach Arbeit. Es war harte und schlecht bezahlte Arbeit auf dem Feld, in Torfmooren und Gärten, im Kanalbau, im Haushalt oder auf See. Trotzdem lohnte sich der Hollandgang, denn anders als in der Heimatregion florierte in den Niederlanden die Wirtschaft. Die Hollandgängerei setzte sich weit bis ins 19. Jahrhundert fort, bis der Wohlstand in den Niederlanden sank, Amerika als Auswanderungsziel interessanter wurde und durch die Industrialisierung auch vor Ort immer mehr Arbeitsplätze entstanden. „Im Begriffe das holde Muffrika mit Amerika zu vertauschen, sage ich allen meinen Bekannten ein herzliches Lebewohl,“ schrieb der Apotheker Braun 1867 in die Zeitung.
Die älteste bekannte Erwähnung des Wortes „Muffrika“ fällt in das Revolutionsjahr 1848. In der Frankfurter Nationalversammlung sollte der emsländische Deputierte Dr. Deymann einer Protestnote zustimmen, die gegen das eigene Hannoversche Ministerium gerichtet war. Deymann zögerte mit seiner Unterschrift, und ein Leserbrief im Ems- und Haseblatt griff ihn dafür an: „Ist unser liebes Muffrica so wenig deutsch und patriotisch, daß es sich stillschweigend das Votum seines Frankfurter Deputirten [Deymann] und die Schmach von ganz Deutschland gefallen ließe, welche dadurch mit auf unsere Gegend fällt, daß er und der Deputirte Detmold allein die Unterschrift des doch sehr gemäßigten Protestes verweigerte?“
Dass das Wort auch als handfeste Beleidigung aufgefasst werden konnte, zeigt der folgende Zwischenfall. Am 29. Juni 1856 wurde die Bahnlinie Rheine-Papenburg feierlich eröffnet. Doch als der Ehrenzug den Lingener Bahnhof Richtung Meppen verließ, wurde am Bahnhofsende eine Ehrenpforte sichtbar, auf der zu lesen stand: „Fröhliche Reise durch Muffrika“. Die Meppener fühlten sich dadurch angegriffen. Die Ems- und Haseblätter kommentierten das mit einem „Soll das ein Witz sein?“ und der Katholische Volksbote in Meppen schrieb: „Es ist ein Mißgriff, wenn man in Lingen, das ehemals eine Universitätsstadt war und jetzt noch ein Gymnasium besitzt, in verletzender Weise (…) den Gruß schauen muß. (…) In Lingen konnte man nur zu gut wissen, daß man mit diesem Gruß die Bewohner des Herzogthums verletzte.“
Fortan begegnet der Begriff „Muffrika“ immer wieder. 1862 veröffentlichte W. Lindemann die Noten zur „Lingener Fastnachts-Polka“, denen auch eine „Scène de Muffrica“ beigegeben war. 1867 erschien Willem Schröders „Swinegels Lebensloop un Enne in’n Staate Muffrika“, eine politische Satire über die Revolutionsjahre 1848/49 und ihre Folgen. Im selben Jahr veröffentlichte die in Leipzig herausgegebene „Gartenlaube“ einen kleinen Aufsatz mit dem Titel „Moorbilder aus Muffrika“. Und 1871 erschienen Kochrezepte in einer Meppener Zeitung, von denen sich der Autor viel versprach, „zumal in unserem wirtschaftlichen Muffrika“.
Der Rektor und Heimatdichter C. D. Lagemann berichtete rückblickend über seinen Werdegang:
Im Herbst 1888 hieß es: Auf nach Muffrika! Die Hände zitterten mir, als ich die Anstellung nach Teglingen, Kreis Meppen erhielt. Was für eine Welt mochte das sein? (…) Ich dachte damals nicht daran, daß es meine zweite Heimat werden würde.
1920 schrieb die Kölnische Volkszeitung:
Das stille Emsland, die Moore, Heidelandschaften und Kämpe der nördlichen Ems vor Ostfriesland, lag den Einflüssen der großen Welt und der Literatur von jeher sehr fern. Verächtlich nannte man es das ,Land Muffrika‘.
1929 schrieben die Ems-Hase-Blätter von „unserer unter dem Namen Muffrika verschrieenen armen Gegend“. Und ein Rundfunkvortrag über das Emsland auf dem Bremer Norag-Sender begann 1930 mit den Worten „Emsland – Muffrika, meine Damen und Herren, kennen Sie den Ausdruck?“ Längst diente der Begriff aber auch der ironischen Selbstbeschreibung. 1895 gründete sich in Lingen ein „Kegelclub Muffrika“, der auch 1923 noch bestand. Und in Meppener Schulen konnte man den Vers lernen:
Abseits im entleg’nen Winkel, viel geschmäht und oft verkannt Sei gepriesen teure Heimat, armes Muffrikaner Land…