Aufgelesen (23): Adine Gembergs Novelle „Morphium“.
In einer Ecke des städtischen Friedhofs liegen welke Kränze und Palmen, „alle gleichmäßig graubraun, als wären sie nie bunt und farbenprächtig gewesen“. Während Arbeiterinnen die Abfälle zusammenkehren und Nonnen eine Statue für Maria Himmelfahrt schmücken, betritt „eine schlanke, bleiche Dame in eleganter Sommertoilette“ den Schauplatz.
Ausgerechnet am Grab ihrer Eltern setzt sich Lydia Bremer die nächste Morphiumspritze und hier trifft sie den ebenfalls schwer abhängigen Wilhelm Thurnau. Für den depressiven jungen Arzt ist Genuss „ebenso gut ein Lebenszweck wie die Arbeit“ und das Dasein zu „öde und traurig“, als dass der Staat die Mittel, die es halbwegs erträglich machen könnten, gesetzlich beschränken dürfte.
Vereinsamt sind beide. Lydia hat sowohl den Kontakt zum gefühlskalten Gatten als auch zu den beiden Kindern verloren, die mit ihrer Erzieherin offenbar mehr anfangen können. Derweil mimt Wilhelm den blasierten Dandy, der seine immer enger werdenden Kreise zieht und für den drohenden Untergang nur ein Achselzucken übrig hat. Für eine Affäre ist es deshalb längst zu spät. Beider Denken und Empfinden dreht sich nur noch um die nächste Spritze. Als ihr Doppelleben enttarnt wird, sehen Lydia und Wilhelm nur noch einen Ausweg …
Krankhafte Sucht
Dass eine Frau über Drogensucht in den vermeintlich besseren Kreisen schrieb, passte nicht so recht in die Zeitschriftenlandschaft des späten 19. Jahrhunderts. Adine Gemberg erhielt mehrere Absagen, ehe sich der S. Fischer Verlag auf Vermittlung von Paul Lindau entschied, „Morphium“ 1895 im Rahmen einer Novellensammlung mit den Texten „Nach dem Tode“ und „Doctor Cäcilie“ zu veröffentlichen.
Für Diskussionsstoff sorgte nun nicht nur das Thema, sondern auch die Umsetzung. Denn Gemberg sah die Sucht als Krankheit an und schilderte die verschiedenen Etappen der Abhängigkeit, euphorische Aufschwünge und schwere Zusammenbrüche, das ewige Versteckspiel mit einer argwöhnischen Umwelt, Wut und Selbsterniedrigung sowie die permanente Angst, ja Panik vor Aufdeckung und Entzug.
Ich brauche mindestens zwölf Gramm für die Saison in Heringsdorf. Rechnen Sie doch – sechs Gramm geben ein Fläschchen für hundert Einspritzungen, eigentlich bekommt man aber nur etwa achtzig heraus, durchschnittlich brauche ich vier am Tage, also in drei Wochen ein Fläschchen, das macht zwölf Gramm in sechs Wochen.
Überdies lenkte die Autorin den Blick auf das soziale Umfeld, ohne die Abhängigen aus der Verantwortung zu entlassen. Während Wilhelms Probleme von Kollegen und Vorgesetzten geflissentlich übersehen werden, reagiert der Geheimrat Bremer mit Unverständnis, Vorwürfen und Verhaltensmaßregeln auf den Zusammenbruch seiner aus der Rolle gefallenen Ehefrau Lydia. Dabei hätte ein wenig Empathie das Blatt vielleicht noch wenden können.
Still und unmerklich war die Liebe eingeschlafen in ihrem Herzen. Ein zartes verständnisvolles Benehmen des Mannes hätte sie vielleicht leise und sanft wieder erwecken können wie ein Sonnenstrahl eine Blüthe, die ein Nachtfrost geschlossen hat, aber seine brutale Moral, sein schroffer korrekter Ehrbegriff hatte die zarte, sterbende Blüthe zertreten.
Eigene Perspektiven
Adine Gemberg (1858-1902) hat eine Botschaft. Aber es gelingt ihr nicht immer, sie im literarischen Fluss treiben zu lassen. Manches steht außerhalb der Geschichte und wäre besser erzählt als erklärt worden. Über den aufdringlichen Symbolgehalt – etwa der vielfach zitierten Sprüche „Das Andenken der Gerechten bleibt im Segen“ und „Der Tod ist der Sünde Sold“ – müssen Lesende ebenfalls nicht glücklich sein.
Gleichwohl ist diese Novelle ein bemerkenswertes Beispiel für den Anspruch der Autorin, mit ihren fiktionalen und journalistischen Texten drängende gesellschaftliche Themen aufzugreifen und kontrovers zu diskutieren. Dabei ging es Gemberg, die selbst als Krankenpflegerin tätig war, vornehmlich darum, Abhängigkeitsverhältnisse unterschiedlichster Art deutlich werden zu lassen. Neben der Suchtproblematik, die in der Novelle „Ein Genuß“ (1898) erneut verhandelt wurde, widmete sie sich der gesellschaftlichen und sozialen Situation von Frauen, insbesondere der Frage weiblicher Selbstbestimmung und Erwerbstätigkeit („Aufzeichnungen einer Diakonissin“, 1896), aber auch den Zuständen in psychiatrischen Anstalten („Kranke Liebe“, 1898).
Ihre Texte waren oft durch persönliche Erfahrungen und überraschende Blickwinkel inspiriert. So galt ihr literarisches und politisches Engagement nicht nur der (weiblichen) Arbeiterschaft, sondern gerade auch den „Frauen des gebildeten, ja des gelehrten Proletariats“, denen sie den Aufsatz „Das heimliche Elend“ (1896) widmete. Gembergs Verdikt zielte hier auf die Geschlechtsgenossinnen, die aus Standesdünkel heimlich und für Hungerlöhne arbeiteten.
Schämen sollten sich diese Damen vor den Arbeiterfrauen, denen sie als leuchtendes Vorbild vorangehen sollten. Die gebildeten Frauen müssen zuerst das Elend überwinden, damit an ihrem Beispiel die Anderen erkennen, welche soziale Aufgabe ihrer wartet.