Das Leben vor dem Tod

Franz Schuberts letzte Liedersammlung trägt offenbar mit Bedacht den Titel „Schwanengesang“ und das geisterhafte Adagio aus dem im Todesjahr komponierten Streichquintett scheint bereits aus dem Jenseits herüberzuklingen. Aber sprühen beide Werke nicht gleichzeitig vor unbändiger Lebensfreude?

Sicher ist, dass Schubert die 14 Lieder nach Texten von Ludwig Rellstab, Heinrich Heine und Johann Gabriel Seidl zwar in einem zeitlichen Zusammenhang komponiert hat. Ein geschlossener Zyklus nach dem Vorbild der „schönen Müllerin“ oder der „Winterreise“ war von Seiten des Komponisten aber wohl nicht beabsichtigt – schon gar nicht unter dem melodramatischen Titel „Schwanengesang“.

Interpreten fühlten sich deshalb immer wieder ermutigt, die von Schuberts Verleger Tobias Haslinger vorgeschlagene Reihenfolge der Lieder zu verändern, einzelne zu streichen oder andere hinzuzufügen. Auch der Tenor Julian Prégardien und der Pianist Martin Helmchen nehmen die 1829 die 1829 erschienen Sammlung als Ausgangspunkt für eine eigene Dramaturgie.

In ihrer Version folgen auf die neu sortierten Rellstab-Lieder Mendelssohn-Bartholdys „Lied ohne Worte“ op.30/1 und Schuberts Einzellied „Schwanengesang“ D.744. Daran schließen sich die sechs Heine-Vertonungen an – ebenfalls in einer von Haslinger abweichenden Reihenfolge. Den Schlusspunkt setzt nicht die „Taubenpost“, sondern das „Schwanenlied“ von Fanny Mendelssohn, dem ebenfalls ein Gedicht von Heine zugrunde liegt.

Was Haslinger als „Franz Schubert letztes Werk“ präsentierte, erweist sich in dieser Beleuchtung schlicht als Werk von Franz Schubert, der im musikalischen und literarischen Kontext seiner Zeit einen Geniestreich nach dem anderen schuf. Dass er dabei von der Ahnung seines nahenden Todes getrieben wurde, ist wenig wahrscheinlich, schließlich werden die Lieder, die von abgrundtiefem Schmerz, Verzweiflung und Lebensmüdigkeit erzählen, durch das flehende „Ständchen“, die muntere „Liebesbotschaft“ oder das kosende „Fischermädchen“ immer wieder ins Lebensbejahende gewendet.

Julian Prégardien und Martin Helmchen bauen zwischen den vermeintlichen Gegensätzen vielfältige Spannungsbögen und kreieren bewegende Momente. So scheint ihr „Aufenthalt“ direkt auf der Schmerzgrenze zu liegen, während sie im „Doppelgänger“ ein fahles Licht über die Szenerie werfen, um sie dann mit unerbittlichen Wahrheiten zu zerschneiden.

Die Darbietung des riesenhaften, fast einstündigen Streichquintetts C-Dur D. 956 folgt demselben Interpretationsansatz. Christian Tetzlaff, Florian Donderer (Violine), Rachel Roberts (Viola), Tanja Tetzlaff und Marie-Elisabeth Hecker (Cello) buchstabieren kein Testament – sie bringen ein Meisterwerk zum annähernd orchestralen Klingen. Dabei lässt das eingespielte, perfekt interagierende Ensemble auch den kleinsten Verästelungen Raum zur Entfaltung.

Das phänomenale Adagio wirkt deshalb nicht weniger jenseitig, ist aber in erster Linie Teil eines größeren Zusammenhangs. Für das Ende des Lebens gilt das ja möglicherweise auch …

Franz Schubert: Schwanengesang / String Quintet, Julian Prégardien, Martin Helmchen u.a., Alpha Classics, 2 CDs