Aufgelesen (12): Karl Gutzkows Erzählung „Die Nihilisten“.
Als der Vater ihre beste Freundin heiratet, verlässt Hertha fluchtartig die gemeinsame Wohnung. Eine ungewöhnliche Entscheidung im Jahr 1847, die nicht nur damit zu tun hat, dass die Tochter peinlich berührt ist …
Der Erzähler in Karl Gutzkows „Die Nihilisten“ weiß, dass Herthas Abschied auch „das Ende einer schon lange in ihr gährenden Krisis“ markiert. Im Grunde gehorcht sie einem „unwiderstehlich gewordenen Drang nach Freiheit und Selbständigkeit“. Tatsächlich will die junge Frau mehr als eine eigene Wohnung. Sie beschließt, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen und sich ohne elterlichen Rat nach einem geeigneten Lebenspartner umzuschauen.
Die Suche nach Freiheit und Selbstbestimmung führt Hertha zu Gelegenheitsrevoluzzern, Naturjüngern und Professoren, „die die Communisterei bereits praktisch betreiben“. Doch im Aufruhr des folgenden Revolutionsjahres werden Ideale und Programme zerrieben. Herthas Geliebter Constantin erkennt beizeiten, dass die Negation des Weltalls den Salon, als eigentlichen Mittelpunkt seiner Welt, unbedingt aussparen muss. Er wird Staatsanwalt, heiratet eine angehende Stiftsdame aus guter Familie und bekennt sich zum Komfort als eigentlichem Lebensziel.
Constantin, reich geworden, konnte jetzt seiner endlich gewonnenen Ueberzeugung, daß von allen, allen Thatsachen, mit denen sich das alberne neunzehnte Jahrhundert quält, nur der Begriff des Comforts der wahrhaft neue und befruchtende Gedanke ist, ganz nach Wohlgefallen leben.
Er hielt sich Wagen und Pferde, er streckte sich auf Divans und Ottomanen, er trieb Blumenzucht in seinen Zimmern und lebte wie ein angebetetes Idol in seiner ganzen Herrlichkeit. (…) Die Stellung eines öffentlichen Anklägers behielt er als eine Art von Privatunterhaltung.
Sein alter Weggefährte Jean Reps wird Fabrikant in Filzwaren. Er betreibt künftig ein Unternehmen, in dem Kinder von „Armen oder Verbrechern oder Verwahrlosten“ ausgebeutet werden können. Herthas Vater lernt die Juristerei aus ungewohnter Perspektive kennen, landet vor Gericht und kehrt schließlich enttäuscht in die Provinz zurück.
Eberhard Ott, der sich einst der verschmähten Verlobten Constantins angenommen hatte, tritt zum zweiten Mal in seine Fußstapfen. Denn Hertha, die sich wie eine Charlotte Corday oder eine Manon Jeanne Roland de la Platière gefühlt hatte, erkennt überraschend den „Dünkel des Nihilismus“, entscheidet sich für den inzwischen verwitweten Eberhard und entwickelt sich zur hingebungsvollen Pflegemutter.
Die Erzählung erschien 1853 – beachtliche neun Jahre vor Iwan Turgenews Roman „Väter und Söhne“, der den Nihilisten nicht zu einem besseren Image, aber zu literarischem Weltruhm verhelfen sollte. Gutzkows Text gehört dagegen auf den ersten Blick nicht zu den künstlerischen Ausnahmeerscheinungen. Die Figuren kommen ein wenig schablonenartig daher, lange Grundsatzerläuterungen stören den Lesefluss, von einer überzeugenden Struktur kann nicht wirklich die Rede sein.
Es ist freilich auch eine weniger literaturkritische Lesart denkbar. Spiegelt sich in den Problemen des Erzählers vielleicht das Scheitern der Nihilisten? Immerhin klappert der trockene Berichtston Gutzkow-Geschichte ebenso selbstgerecht wie das rhetorische Besteck der Salonrevolutionäre, die nach einem gescheiterten Aufstand ihre philosophischen Ideen und politischen Ideale, nicht aber ihre gesellschaftlichen Ambitionen über Bord werfen.
Ähnlichkeiten mit politischen Parteien des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts waren von Gutzkow sicher nicht beabsichtigt, machen seine Erzählung aber ebenso lesenswert wie die reizvolle sozialgeschichtliche Perspektive.
Auf dem Index
Karl Gutzkow, geboren 1811 in Berlin, gehörte zu den produktivsten Schriftstellern und Journalisten des 19. Jahrhunderts, galt als einer der führenden Köpfe der „Jungdeutschen“ und streitbarer Teilnehmer an literarischen und politischen Kontroversen. Aufsehen erregte vor allem sein 1835 erschienener Roman „Wally, die Zweiflerin“, der wegen seiner gesellschafts- und religionskritischen Ansätze kurz nach dem Erscheinen verboten wurde. Auch andere Arbeiten landeten auf dem Index, doch Gutzkow blieb schreiblustig und populär.
Zu seinen größten Erfolgen gehörte das vielfach aufgeführte Schauspiel „Zopf und Schwert“, das noch 1974 von Helmut Käutner verfilmt wurde. Auch seine monumentalen Romane „Die Ritter vom Geiste“ (9 Bände, 1850/1851) und „Der Zauberer von Rom“ (ebenfalls 9 Bände, 1858/61) fanden zahlreiche Leser. 1878 starb Gutzkow in Frankfurt am Main.
Hybrider Gutzkow
Vom Buchmarkt sind Gutzkows Werke mit Ausnahme von „Wally, die Zweiflerin“ und diversen Reprints weitgehend verschwunden. Das Editionsprojekt Karl Gutzkow hat sich zum Ziel gesetzt, eine kommentierte, digitale Gesamtausgabe zu realisieren. Im Münsteraner Oktober Verlag erscheinen dazu entsprechende Textbände. „Die Nihilisten“ finden sich in der 2021 herausgegebenen Sammlung „Kleine erzählerische Werke Band 2“.