Das Programm des Diktators

Braune Relikte (1): „Mein Kampf“ mit Stadtwappen.

Es ist die Geschichte einer Stadt, doch was hier geschah, ereignete sich auch in vielen anderen deutschen Städten. Die Serie „Braune Relikte“ basiert auf der Sammlung Nationalsozialismus, die sich im Museumsquartier Osnabrück befindet. Anhand von Objektbiografien wird die Geschichte des Nationalsozialismus mit seinen Ursachen und Folgen veranschaulicht. So entsteht ein virtueller Lernraum, der die Fundstücke einer Diktatur analysiert, um Lernprozesse für demokratische Gesellschaften zu ermöglichen. Im Mittelpunkt des ersten Teils steht Adolf Hitlers Hetzschrift „Mein Kampf“, in dem sich der verurteilte Demagoge zu einer historischen Persönlichkeit stilisierte und seine beispiellosen Verbrechen bereits ankündigte.

Das bis heute nachwirkende, übermächtige Bild des „Führers“ Adolf Hitler als Mittelpunkt der NS-Bewegung ist Ergebnis einer – für autoritäre Systeme so typischen wie maßgeblichen – bewussten Inszenierung. Diese reicht von der in „Mein Kampf“ dokumentierten Selbststilisierung vor der „Machtergreifung“ über den nationalsozialistischen Führerkult ab 1933 bis zu Hitlers Selbsttötung im „Führerbunker“. Eine reine Fokussierung auf den konstruierten „Führer“ verstellt dabei den Blick für die Komplexität totalitärer Systeme und die Tatsache, dass sie nur funktionieren können, wenn auch genügend andere mitmachen – ob Überzeugungstäter, Profiteure, Mitläufer oder Gleichgültige.

Zu den zentralen Schlüsseln des nationalsozialistischen Selbstverständnisses gehört Adolf Hitlers (1889–1945) Buch „Mein Kampf“. Die Programmschrift offenbart dessen antisemitische und antidemokratische Gesinnung. Hitler wurde 1921 Vorsitzender der 1919 als Deutsche Arbeiterpartei gegründeten und kurz darauf umbenannten NSDAP. Trotz ihres „25-Punkte-Programms“ (24. Februar 1920) besaß die Partei noch keine feste Ideologie.

Als Hitler nach dem Scheitern seines als „Marsch auf die Feldherrnhalle“ verbrämten Putsches vom 9. November 1923 zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt wurde, bot sich ihm die Gelegenheit, eine solche zu entwickeln. Während seiner auf acht Monate verkürzten Haftzeit (11.11.1923–20.12.1924) in Landsberg am Lech lieferten ihm komfortable Haftbedingungen ohne Arbeitsverpflichtungen günstige Voraussetzungen, um sein Weltbild in einem Selbstfindungsprozess zu klären. Dabei konnte er auf erste Ideen zurückgreifen, die er seit Januar 1921 im „Völkischen Beobachter“ publiziert hatte. Aus dem ursprünglichen Konzept einer Rechtfertigungsschrift zum gescheiterten Putsch wurde ein umfassendes, in biografischer Form angelegtes politisches Manifest. Entgegen seinem sonstigen Bemühen, so wenig wie möglich von sich preiszugeben, gab sich Hitler hier ungewöhnlich offen.

Am 18. Juli 1925 wurde mit „Eine Abrechnung“ der erste Teil des Buches veröffentlicht. Der zweite Teil „Die nationalsozialistische Bewegung“ erschien am 10. Dezember 1926. Ab 7. Mai 1930 wurden beide Teile in einem Band herausgegeben. Diese „Volksausgabe“ setzte sich als Standardausgabe durch. Nach 1933 wurde das mythisch überladene Symbol als Teil der NS-Propaganda massenhaft verbreitet. Bis 1945 erschienen knapp 12,5 Mio. Exemplare in mindestens 1.122 Auflagen, die 17 fremdsprachigen Ausgaben nicht mitgerechnet.

Am 10. April 1936 forderte der Reichs- und Preußische Innenminister in einem Runderlass alle Gemeinden auf, das Buch „zwecks Aushändigung bei Eheschließungen durch die Standesbeamten“ anzuschaffen. Im niedersächsischen Raum war die „Auslieferungsstelle Niedersachsen des Zentralverlages der N.S.D.A.P.“ in Hannover dafür zuständig. Bis Anfang 1938 beteiligten sich 50% der Gemeinden an der Propaganda-Aktion. Die Osnabrücker Exemplare wurden extra mit dem Wappen der Stadt gebunden. So erhielt die „Bibel des Nationalsozialismus“ eine lokale Verankerung.

„Mein Kampf“ ist das umfassendste und ‚intimste‘ Selbstzeugnis eines Diktators, dessen politisches und verbrecherisches Handeln die Welt so stark verändert hat. In dem egozentrischen Buch stilisiert sich ein gescheiterter und verurteilter Demagoge zu einer historischen Persönlichkeit – dem Dreh- und Angelpunkt in der Entwicklung der NSDAP. Trotz seiner Autorenschaft verstand sich Hitler eher als Redner denn als politischer Schriftsteller. Nicht von ungefähr inszenierte ihn sein Leibfotograf Heinrich Hoffmann vor allem als fanatischen Rhetoriker.

Entsprechend belegt das Vorwort Hitlers von Dünkel geprägte Mission: „Ich weiß, […] daß jede große Bewegung auf dieser Erde ihr Wachsen den großen Rednern und nicht den großen Schreibern verdankt.“ So schreibend wie er sprach, wurde „Mein Kampf“ zu einem schwer lesbaren, verworrenen Text mit unfreiwillig komischen Passagen. Dies minderte in keiner Weise die Brutalität und Menschenverachtung seiner um Ideen von Rasse, Raum, Gewalt und Diktatur kreisenden gedruckten Botschaften.