Der Blick auf uns selbst

Selbst musikalische Raritätensammler hatten ihn kaum noch auf dem Zettel, doch seit seinem 150. Geburtstag feiert Leo Blech (1871-1958) ein überraschendes Comeback. Hauptverantwortlich für die Wiederentdeckung des einst erfolgreichen Komponisten sind das Sinfonieorchester seiner Geburtsstadt Aachen und dessen findiger Chefdirigent Christopher Ward. Sie prägen auch die Weltersteinspielung der schillernden Oper „Alpenkönig und Menschenfeind“, der ein Rückweg ins Repertoire zu gönnen und durchaus zuzutrauen ist.

Leo Blech und sein Librettist Richard Blatka hatten keine Hemmungen, Ferdinand Raimunds populäres Zauberspiel operntauglich zurechtzuschneiden. Ihre Bekehrung des unbeugsamen Misanthropen Rappelkopf, der erst vom Rand der Selbstzerstörung zurückweicht, als der Alpenkönig Astralagus in seine Gestalt schlüpft und ihm sein absurdes Gebaren plastisch vor Augen führt, ist jedoch nicht weniger vielschichtig als die literarische Vorlage.

Blechs Vertonung, die 1903 in Dresden uraufgeführt wurde, lässt durchgängig dramatische Konsequenzen aufscheinen. All das muntere Treiben könnte innerhalb kürzester Zeit mit Mord und Totschlag enden – wenn es den empathischen Herrscher der Berge nicht gäbe. Da er nun aber zur Stelle ist, um Katastrophen zu verhindern, bleibt auch Raum für Nachdenklichkeiten, emotionale Überschwänge und burleske Kapriolen.

Kompositorisch wird dafür das komplette Arsenal der Entstehungszeit aufgerufen – von der großen musikdramatischen Geste über luzide Orchestervorspiele und leichtfüßiges Parlando bis hin zum Volkslied und eingängigen Operettenschlager, in den der Diener Habakuk seine gesammelten Lebensweisheiten verpackt hat.

Hier fehlt der Chic, der noble Schwung.
Sie leben wie die Bären,
Drum muss ich von Erinnerung an bess’re Tage zehren.
Denn mein einziger Trost ist ja dies:
Zwei Jahre war ich Diener in Paris!

Die Weltersteinspielung, der bis Dezember 2022 szenische Aufführungen am Theater Aachen folgen werden, ist ein eindrucksvolles Plädoyer für die nachhaltige Wiederentdeckung der Oper und ihres Komponisten, der auch ein Opfer der nationalsozialistischen Kulturpolitik und ihrer Folgen wurde, obwohl er an der Berliner Staatsoper bis 1937 fast 3.000 Vorstellungen dirigierte – zuletzt mit einer Sondergenehmigung von Hermann Göring. Als Leo Blech zwangspensioniert wurde, emigrierte er über Lettland nach Schweden, kehrte aber 1949 nach Berlin zurück.

In einem homogenen Ensemble überzeugen Ronan Collett (Astralagus), Hrólfur Saemundsson (Rappelkopf) und Sonja Gornik (Martha) mit besonders intensiven Charakterstudien. Bei einem brillanten Instrumentationskünstler wie Leo Blech, der trotz Reminiszensen an Wagner, Strauss und seinen Lehrer Humperdinck eine große stilistische Eigenständigkeit wahrt, wundert es freilich nicht, dass sich die eigentlichen Stars der Aufführung im Orchestergraben befinden.

Leo Blech: Alpenkönig und Menschenfeind, 2 CDs, Capriccio