Bei der Weltpremiere 2019 wurde Anna Thorvaldsdottirs 1. Streichquartett durch den eigens produzierten Film des Videokünstlers Sigurdur Gudjonsson opulent in Szene gesetzt. Doch „Enigma“ wirkt auch ohne zugespielte Bilder. Dem Spektral Quartet, das schon die Uraufführung realisierte, gelang im Tonstudio eine weitere suggestive Performance.
Anna Thorvaldsdottir gehört zu den profiliertesten Komponistinnen der Gegenwart, weil ihre Tonsprache absolut unverwechselbar ist. Phrasen, Harmonien und lyrische Bögen, aber auch Töne, Klänge, Geräusche sowie Bruchstücke derselben wirbeln wild durcheinander, um sich dann wieder zu überraschend folgerichtigen Gebilden, Formen und Strukturen zu versammeln.
Wachstum wird hier zum Selbstzweck, Entwicklung zwar gezeigt, aber nie von Endpunkten gebrochen, sondern immer wieder durch neue Schöpfungen erweitert. „Alle Materialien wachsen kontinuierlich in- und auseinander, sie wachsen und verändern sich während des Prozesses“, erklärt Anna Thorvaldsdottir in einer „Composer’s Note“ zu ihrem Streichquartett.
In dieser Notiz finden sich auch Hinweise für die praktische Umsetzung, zum Beispiel das Bild einer sehr zarten Blume, welche die Interpreten auf Händen tragen sollen. Die Strecke, die sie dann zu gehen haben, führt allerdings über ein dünnes Seil und sie dürfen weder die Blume verlieren noch selbst herunterfallen.
Das Spektral Quartet hält sowohl die Blume als auch die eigene Balance und zelebriert „Enigma“ als klein besetzte, aber orchestral in Erscheinung tretende Hommage an die faszinierenden Dimensionen und Zwischenreiche, die sich im endlosen Kosmos und innerhalb der menschlichen Existenz auftun.
Eine herausragende CD mit einem einzigen Manko: Die Spieldauer beträgt nur knapp 29 Minuten.
Anna Thorvaldsdottir: Enigma, Spektral Quartet, Sono Luminus