Der lange Arm der Reichsminister

Im August 1941 wandte sich der Landrat von Meppen mit einer nicht eben alltäglichen Bitte an seinen vorgesetzten Regierungspräsidenten: Dem Bauern Heinrich Gruth aus Holthausen möge die Ausübung der Heilkunde gestattet werden. Die Familie des Betreffenden habe seit Generationen Erfahrung in der Behandlung von Knochenbrüchen, offenbar seien hier spezielle Fähigkeiten vererbt worden.

Insbesondere Heinrich Gruth werde bei mindestens 80 Prozent solcher Verletzungen zu Hilfe gerufen. „Heilung hat fast jeder gefunden“, schrieb der Landrat. Ein gegenteiliger Fall sei ihm jedenfalls nicht bekannt. Der Landrat berief sich schließlich auf den Kreisleiter der NSDAP. Dieser sei ebenfalls der Ansicht, dass Gruth der Allgemeinheit „als Praktiker unbedingt erhalten werden muss“. Die Bevölkerung werde kein Verständnis dafür haben, „wenn dem Gruth seine Tätigkeit grundsätzlich verboten würde.“

Das Schreiben bezieht sich auf das im Februar 1939 in Kraft getretene „Heilpraktikergesetz“, das die Tätigkeit von Heilpraktikern massiv einschränken wollte. Offenbar unter dem Einfluss der tief in die Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickten Reichsärztekammer, die viele ihrer Vorstellungen in den Gesetzestext einbrachte. „Wer die Heilkunde, ohne als Arzt bestallt zu sein, bisher berufsmäßig nicht ausgeübt hat, kann eine Erlaubnis (…) in Zukunft nur in besonders begründeten Ausnahmefällen erhalten“, hieß es dort.

Bauer Gruth konnte unter diesen Umständen nicht mit einem positiven Bescheid rechnen. Das Regierungspräsidium Osnabrück lehnte den Antrag ab. Eine gelegentliche Hilfe ohne Entgelt und Sprechstunden sei ohnehin keine berufs- und gewerbsmäßige Ausübung der Heilkunst.

Gesetze aus der NS-Zeit weiter in Kraft

Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches schafften die Gesetzgeber der Bundesrepublik die Registrierungspflicht ab und ließen die Ausbildung zum Heilpraktiker unter amtsärztlicher Überprüfung wieder zu. Das Gesetz aus dem Jahr 1939 ist aber immer noch in Kraft.

Mit inhaltlichen Veränderungen, doch verschiedene historische Bezüge blieben erhalten. So heißt es in § 2 bis heute: „Wer durch besondere Leistungen seine Fähigkeit zur Ausübung der Heilkunde glaubhaft macht, wird auf Antrag des Reichsministers des Innern durch den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung unter erleichterten Bedingungen zum Studium der Medizin zugelassen, sofern er seine Eignung für die Durchführung des Medizinstudiums nachweist.“

Bei den Genannten handelt es sich um Wilhelm Frick und Bernhard Rust. Frick war von 1933 bis 43 Reichsminister des Innern, wurde im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher schuldig gesprochen und im Oktober 1946 hingerichtet. Bernhard Rust leitete mehr als ein Jahrzehnt das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und nahm sich in der Nacht zum 8. Mai 1945 das Leben.

Alle Rechtsvorschriften sollen überprüft werden

Das „Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung“ ist kein Einzelfall, auch wenn der Deutsche Bundestag im Februar 2021 immerhin schon einmal die Bestimmungen zur Namensänderung aus dem Jahr 1938 novellierte.

Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, geht dieser Schritt aber nicht weit genug. Er setzt sich dafür ein, „dass alle verbliebenen Rechtsvorschriften überprüft und bereinigt werden.“ Kleins Forderung zielt insbesondere auf das Gesetz über den Deutschen Sparkassen- und Giroverband, das Gesetz über Zahlungsverbindlichkeiten gegenüber dem Ausland, beide aus dem Jahr 1933, und das Heilpraktikergesetz. Da sie von vielen Bundestagsabgeordneten parteiübergreifend geteilt wird, könnten die Gesetze der Bundesrepunlik Deutschland bald von zuständigen Reichsministern befreit werden. Fast 80 Jahre nach Kriegsende …