Aufgelesen (24): Marie Eugenie delle Grazies Versepos „Robespierre“.
Einem einzigen Werk habe sie die zehn besten Jahre ihres Lebens geopfert, meinte der befreundete Rudolf Steiner und auch die Autorin selbst empfand die Arbeit an ihrem opus magnum bisweilen „eher als Schmerz denn als Freude“. 1894 wurde das monumentale Verspos „Robespierre“, in dem die Französische Revolution vor allem als soziale Bewegung erschien, endlich veröffentlicht.
Das gut 1000-seitige Werk, das in 24 Gesänge unterteilt ist, will ausdrücklich ein „modernes“ Epos sein und schlägt schon im wortgewaltigen Prolog eine Brücke vom antiken Rom ins revolutionäre Frankreich bis in eine Gegenwart unbestimmten Ortes. Dabei zeigt die Erzählerin auf eine Weltgeschichte, die „mit hartem, lächelndem Cäsarenblick“ zuschaut, wie Glaube und Recht ewig ihren Platz tauschen, auf dass Opfer zu Tätern werden, die das Stigma nicht mehr erkennen, welches die Macht von ihrer eignen Stirn „hinweggebrannt“ hat.
Der erste Gesang beginnt mit dem Tod eines Betteljungen, der von der Kutsche eines Grandseigneurs überfahren wird – die Reminiszenz an Charles Dickens „Geschichte aus zwei Städten“ löst den gesellschaftlichen Umsturz aus, der nun nicht mehr aufzuhalten ist. Zunächst plan- und absichtslos treibt die Gruppe der Trauernden und Wütenden Richtung Palais Royal, nimmt dann immer bedrohlichere Ausmaße an und trifft schließlich auf Protagonisten der Revolution, die der angestauten Wut und Verzweiflung ein vorläufiges Ventil verschaffen. Die Gründung einer „Assemblee nationale“ verspricht der unterdrückten Masse eine bessere Zukunft. An diese glaubt auch ein stummer Beobachter – der Titelheld Robespierre. Doch die geheimnisvolle Lea warnt ihn vor der Überschätzung des vermeintlich historischen Augenblicks: Das Leben habe einzig und allein den Zweck, sich endlos zu wiederholen.
„Mit verletzend unweiblicher Rücksichtslosigkeit“
Diesem ebenso dynamischen wie geschichtsphilosophischen Auftakt folgt eine Bilderflut in Blankversen, die aus der schwülen Hofatmosphäre von Versailles ins Elendsviertel Saint Antoine ausbricht, den Sturm auf die Bastille begleitet, vom Jakobinerkloster in den Salon Roland und ins Gefängnis Ludwig XVI. führt, ehe sie mit Robespierre auf die Guillotine steigt. Dabei reiht sich ein Gewaltexzess an den nächsten. Deren ausgiebige Schilderung verschreckte sogar Freunde der Dichterin und ließ den Kollegen Rudolf von Gottschall, selbst Autor eines Dramas mit Namen „Robespierre“ (1845), vermuten, ihre Muse habe „offenbar das Feigenblatt auf dem Toilettentisch liegen lassen.“ Noch 1926 stellte die Literaturgeschichte von Friedrich Vogt und Max Koch missbilligend fest, delle Grazie sei „mit verletzend unweiblicher Rücksichtslosigkeit“ vorgegangen.
Ganz sicher hatte sie nicht die Absicht, ihre Leserschaft zu schonen. Dem Unfalltod des ersten Gesangs folgen Anschläge, Morde, Plünderungen und Hinrichtungen. Auch Massenvergewaltigungen gehören zur Bürgerkriegsstrategie – schockierende Einzelheiten aus Avignon berichtet der als „Jourdan Coupe-Tête“ berüchtigte Mathieu Jouve Jourdan. Am Ende werden alle Beteiligten zu Tätern. Die Spitzen der Gesellschaft, die jene endlose Abfolge von Mord und Totschlag durch jahrhundertelange Unterdrückung in Gang gesetzt haben. Aber ebenso ihre Opfer, die keinen Maßstab für Gerechtigkeit, sondern eine Gelegenheit zu blutiger Rache suchen. Oder lediglich die Seiten tauschen wollen.
„So anders finden die gestörten Träumer / Die Menschheit, als ihr Geist sie construirt, …“
Mit welch absurder Hast sich die ehemals verbrüderten Revolutionsparteien kannibalisieren, zeigt sich vor dem Nationalkonvent, wo der einstige Volksheld Danton von François Hanriot gestoppt wird, den der Machtkampf im Vorfeld der Terrorherrschaft zum Kommandanten der Nationalgarde gemacht hat.
Aber sieh´:
Die Alle rings in Athem hält und mächtig
Noch einmal bannt: die Kraft Danton´s – nicht weicht ihr
Hanriot! Behaupten wird er seinen Platz,
Und seinen Gaul und seine tricolorne
Cocard´ – nicht mit dem Geiste eines Helden,
Doch mit des Jahrmarktschreiers breitem – Arsch.
Wer die Schuldfrage stellt, findet im Zentrum den Titelhelden, an dessen ursprünglich lauteren, uneigennützigen Absichten delle Grazie kaum Zweifel lässt. Doch der selbsternannte Wegbereiter eines „l’Être suprême“ erkennt zu spät, „daß der Pfad / Des Träumers mit dem Wege des Verbrechers / Im selben Punkt sich mystisch kreuzt“. In Robespierres reiner Lehre ist kein Platz für Mitleid und Erbarmen, die delle Grazie aber als essentielle Voraussetzungen betrachtet, um die „Vergangen- und Gegenwartskrankheit“ der Selbstsucht zu überwinden. Überdies kennt Robespierre keine Kompromiss- und Versöhnungsbereitschaft und so frisst die Revolution zuletzt auch ihr gehorsamstes Kind.
Modernes Epos und Naturalismus
Delle Grazie experimentierte trotz strenger Form und historischem Gegenstand mit den Werkzeugen des Naturalismus und ging weit über jene epischen Dichtungen mit biographischen Einsprengseln hinaus, wie sie der von ihr geschätzte Robert Hamerling effektvoll in Verse zu setzen vermochte. Sie erfüllte damit bereits die Forderungen eines Programms, das sie erst Jahre später in der Abhandlung „Das Epos“ niederlegte.
Psychologisch differenzierte, aus Kindheitserlebnissen entwickelte Charaktere drücken dem „modernen“ Epos ihre Stempel auf. Da ist der Sadist Louis Antoine de Saint-Just, der schon in jungen Jahren das krankhafte Bedürfnis hatte, ihm ausgelieferte Kreaturen zu quälen und nun wie ein „Jünger“ an den Lippen seines „Messias“ Robespierre hängt. Wir begegnen dem Marquis de Mirabeau, der am Grab des verhassten Vaters Gespenster sieht, die ihm die unverzeihliche Schuld des Erzeugers, aber auch die eigenen Vergehen zeigen. Sein Gegenspieler, der Marquis de La Fayette, kämpft ebenfalls mit den Untiefen der eigenen Psyche, die ihm zunächst das Erbe der Bourbonen und dann eine glorreiche Zukunft als Freiheitsapostel und Volkstribun vorgaukelt.
Derweil erzeugen rasante Massenszenen und plastische, detailverliebte Kulissen jenes Gefühl von Authentizität, das in der europäischen Literaturszene der 1890er Jahre en vogue ist. „Wer so ihn dasteh´n sieht“, heißt es mit Nachdruck im Dritten Gesang über Georges Danton,
Dem eignen Dämon brünstig hingegeben,
Ganz Wille, Thatkraft, Muskel und Gewalt;
Dies breite Grinsen um den Mund, das cynisch
Hinweglacht über Tod und Leben; dies
Brutale Doggenaug´, blutunterlaufen
Und finster; dieser Wangen fahles Bleich,
Drein wie die Spuren eines Brand´s unheimlich
Der Pockenmale Rot sich zeichnet; diese
Cyklop´schen Glieder, dieses Nackens Jochs –
Der glaubt dem lauten Prahlerwort Danton´s,
Glaubt, daß die Schultern dieses Mann´s geschaffen,
Ein Fürchterliches aufzunehmen und
Mit einem Ruck der Welt in´s Lügenantlitz
Zu schleudern, reuelos, dass sie zerkracht.
Selbstbewusste Frauen
Delle Grazies Aufmerksamkeit gilt nicht nur den Protagonisten der Revolution. Neben Danton, Desmoulin, Fauchet, Robespierre, Mirabeau, Lafayette oder Marat rücken Bettler, Dirnen, Soldaten und Bauern ins Rampenlicht. Frauen spielen in ihrem Revolutionsepos immer wieder Schlüsselrollen – und das nicht nur bei dem Demonstrationszug, der Ludwig XVI. im Oktober 1789 zwingt, das Schloss von Versailles zu verlassen und ins Pariser Palais des Tuileries zu ziehen.
Delle Grazie lässt Revolutionsikonen wie Charlotte Corday, Théroigne de Méricourt, Germaine de Staël, Madame Roland oder Louison Chabry auftreten, doch auch die höfische Welt findet Repräsentantinnen in Jeanne Louise Henriette Campan, der Duchesse de Polignac und der Königin Marie Antoinette. Dazu gesellen sich fiktive Gestalten wie die eingangs erwähnte Lea oder die Prostituierte Margot. Viele von ihnen folgen Ideen, die über die männlichen Revolutionsziele hinausgehen, weil sie noch andere gesellschaftliche Gegensätze ausgemacht haben als diejenigen zwischen Adel, Klerus und einfachem Volk. Als Claude Fauchet seine Geliebte Juliette bedrängt, weist sie ihn programmatisch zurecht und zurück:
Was forderst du von mir? Ließ frevle Selbstsucht
So rasch dein Herz vergessen, was ich Dir
Vertraut: die Qual des Fluches, der mein ganzes
Geschlecht erniedrigt, unsre Zukunft roh
vorausbestimmt und ohne Wahl entscheidet:
´Begehrt zu werden, sei Dein Schicksal, Weib?´
So lernt ich den Gemal verachten, Claude,
Und Du – weißt Du nicht Höh´res mir zu bieten?
Das Fühlen der Gegenwart
Delle Grazie, die in regem Austausch mit Ernst Haeckel, Rudolf Steiner, Bartholomäus von Carneri oder Alexander Tille stand, fügte in „Robespierre“ auch wesentliche Fundamente ihrer Weltanschauung zusammen. Das Epos vermittele einen „tiefen Eindruck des Fühlens der Gegenwart“, meinte Steiner und Haeckel attestierte „der genialen Wiener Dichterin“, seine eigene Ideen „dichterisch verklärt“ zu haben. So wie der Autor der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ den „Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft“ verstand, sah delle Grazie seine wahre Größe darin, „daß er ohne Götzen zu Gott führt“.
Im 12. Gesang, der den Titel „Die Mysterien der Menschheit“ trägt, nimmt diese Theorie dichterische Formen an. Der ehemalige Priester Claude Fauchet erlebt im Jakobinerkloster apokalyptische Visionen. Sie zeigen ihm die „blutende, gequälte Menschheit, / Der jeder Gott zum Fluch geboren wird!“ Jesus und Prometheus, Glaube und Wissenschaft haben dem verzweifelten Priester nichts mehr zu sagen, während die personifizierte Natur ihm wenigstens einen Platz zuweist.
Was bist du mir? Nicht wen´ger als ein Hauch,
Denn meines Mundes Odem schafft Gestirne!
Was soll dein Stolz? Kaum weiß ich, daß Du bist,
Denn spielend forme ich an Ewigkeiten,
und Raum und Zeit sind Deiner Blindheit Maß!
Die Allmacht der Natur gewährt Fauchet schließlich ein mystisches Erlebnis, das ihn zum Teil eines sich im Laufe der Geschichte vollendenden Ganzen werden lässt – Delle Grazies Verbeugung vor Spinoza und die Einlösung der Hegelschen Forderung nach einem „Epos als einheitsvolle Totalität“.
(…) – nicht denkt er mehr
Sich selbst, doch in sich sieht und fühlt er Alles,
Was lebt, und bräutlich-myst´sche Lust paart ihn
Mit allem Seienden.
Lea sieht im Angesicht des nahen Endes ihrer irdischen Existenz sogar die Grenze zwischen Leben und Tod verschwimmen und feiert einen „Sieg im Fallen“ (II, 64). Den „Narren des Bewusstseins“ bleibt dieser Triumph bis auf weiteres verwehrt.
Die Dichterphilosophin
„Robespierre“ avancierte zur literarischen Visitenkarte der 1864 im damals österreichischen, heute serbischen Weißkirchen geborenen Autorin. In den folgenden Jahren schrieb sie dem Realismus verpflichtete, oft sozial- und gesellschaftskritische, später auch stark religiös geprägte Gedichte, Erzählungen, Theaterstücke und Romane. Neben „Robespierre“ sorgte das bis heute bemerkenswerte Bergarbeiterdrama „Schlagende Wetter“ (1899) für besonderes Aufsehen.
Drei Jahre später erschien bereits Bernhard Münz Abhandlung „Marie Eugenie delle Grazie als Dichterin und Denkerin“, mit der auch ein „Portrait der Dichterphilosophin“ annonciert wurde, die zu diesem Zeitpunkt zweifellos zu den bekanntesten Schriftstellerinnen ihrer Generation gehörte. Delle Grazie starb am 18. Februar 1931 in Wien.