Der Protagonist

Im vierten Teil unseres Kurzgeschichtenkompasses geht es um die Hauptfigur. Sie führt uns durch die Geschichte, wir erleben die Handlung durch ihre Augen.

Nach Gotthold Ephraim Lessing, der sich im 18. Jahrhundert in seiner ➤ „Hamburger Dramaturgie“ unter anderem zur Figurengestaltung äußerte, darf eine Hauptfigur weder vollständig gut noch vollständig schlecht sein. Denn das Ziel ist, dass wir uns beim Lesen mit der Hauptfigur identifizieren, uns für sie öffnen und ihr durch die Handlung folgen.

Ist sie nur schlecht, ist sie uns nicht sympathisch und wir identifizieren uns nicht mit ihr. Ist sie nur gut, erscheint sie uns unglaubwürdig und wir identifizieren uns ebenfalls nicht mit ihr. Sie muss also bis zu einem gewissen Grad so sein wie wir – ein aus unterschiedlichsten Eigenschaften gemischter Charakter, damit wir eine ausreichende Ähnlichkeit erkennen. Außerdem geben wir der Figur so die Möglichkeit, sich im Laufe der Geschichte zu entwickeln. Oder aus den guten und weniger guten Eigenschaften entsteht der Konflikt für unsere Geschichte.

Wichtig ist, dass der Protagonist eine Motivation hat, denn nur wer etwas will, wird auch dafür kämpfen. Je stärker die Motivation, desto größer der Einsatz unserer Figur. Und gerade im Kampf um ein Ziel wird die Figur für uns erkennbar: Geht sie über Leichen? Nimmt sie Rücksicht auf andere? Wächst sie über sich hinaus? Gibt sie auf?

Die Stärke der Motivation hängt immer auch vom Umfeld der Figur ab. Beispiel: Die Figur hat Durst und will Wasser trinken. In einer normalen Umgebung kann diese Motivation schnell umgesetzt werden, im schlimmsten Fall gehen wir ins Badezimmer und trinken aus dem Wasserhahn. Wenn das Bad gerade besetzt ist, warten wir, irgendwann wird es wieder frei. Unser Protagonist wird sich wahrscheinlich nicht zu ungewöhnlichen Handlungen hinreißen lassen.

Wenn unser Protagonist aber halb verdurstet durch eine Wüste irrt und mit einem anderen Halbverdursteten eine Flasche Wasser findet, dann wird unser Protagonist sicher mehr in die Waagschale werfen. Und je nach Charakter der Figur wird sie die Flasche teilen, sie sich mit Gewalt aneignen, die andere Figur geschickt austricksen oder ihr vielleicht auch das Wasser überlassen.

Die Motivation einer Figur setzt die Handlung in Gang und macht unsere Figur erkennbar. Da jede Hauptfigur aber auch noch einen Gegenspieler benötigt, schauen wir in der nächsten Folge auf den Antagonisten.