Der Dortmunder Bildhauer, Maler, Architekt und Kunstgewerbler Bernhard Hoetger (1874-1949) entwarf 1911/12 während eines Aufenthalts in Florenz den Majolikenzyklus „Licht- und Schattenseiten“. Er ließ die Figurengruppe 1912 von dem Keramiker Max Laeuger (1864-1952) in der Kunsttöpferei Tonwerke Kandern (KTK) ausführen, die zu einer der bedeutendsten Kunsttöpfereien Deutschlands zählte. Anschließend wurden die Majoliken von der Dresdener Galerie Arnold vertrieben.
Die aufrechtstehende Figur mit der Bezeichnung „Sieg“ gehört zu diesem 15-figurigem Ensemble. Der weibliche Halbakt mit asiatischen Gesichtszügen trägt eine ballonartige Kopfbedeckung und ist umhüllt mit einem voluminösen, antikisierenden Gewand. Die Majolikafigur hat die Augen niedergeschlagen und beide Hände erhoben. Allein der Sockel ist blau bemalt, Körper und Bekleidung des „Sieges“ bleiben als Reminiszenz antiker Marmorfiguren nahezu farblos.
Das Exemplar „Sieg“ im Museum für Kunst und Kulturgeschichte wurde 1967 aus der Nachlassauktion des Keramikers Richard Bampi (1896-1965) erworben und ist wohl nur durch wenige Hände gegangen. Denn Bampi gründete 1927 nach Auflösung der KTK die Fayence-Manufaktur Kandern GmbH. Sein Geschäftspartner war der Keramiker Hermann Hakenjos (1879-1961), der seit 1914 Laeugers Nachfolger in der KTK gewesen war.
Der „Sieg“ ist formal gesehen ein Solitär in dem Figurenensemble Licht- und Schattenseiten. Denn im Gegensatz zu dieser stehenden Figur sitzen, hocken oder liegen die weiteren Frauen- und Männergestalten. Diese bilden zudem – laut Aufstellungsplan des Künstlers – Gegensatzpaare. Sie sollen einander gegenüberstehen: zur Linken des „Siegs“ die Figuren des Lichts und zur Rechten die Figuren des Schattens. Bildnerisch passen die jeweiligen Paare zueinander, aber ihre Betitelung schafft wohl mit Absicht Verwirrung, steht doch die „Liebe“ der „Hinterlist“, die „Wahrheit“ der „Rache“, die „Milde“ dem „Geiz“, die „Güte“ dem „Hass“, der „Glaube“ die „Wut“ und der „Hoffnung“ die „Habgier“ gegenüber. Allein die namensgebenden Figuren „Licht“ und „Schatten“ sind exakte Gegensätze, ein wenig Ordnung im Chaos, das überhandzunehmen scheint. Über allen ragt der „Sieg“ quasi als unparteiische Richterin, deren erhobene Hände mehr als Beschwichtigungsgeste als eine Orantenhaltung interpretiert werden kann. Ganz neutral ist diese Figur nicht, denn der Kontrapost lässt eine leichte Tendenz zur Lichtseite des Zyklus annehmen. Die Majolika „Sieg“ wirkt dadurch auch als eine Botschafterin moralischer Größe.
Bernhard Hoetger, Sohn eines Schmieds aus Hörde, arbeitete zunächst als Steinmetz, bevor er 1898 an der Düsseldorfer Kunstakademie Bildhauerei studierte. Anlässlich der Weltausstellung reiste er 1900 nach Paris und blieb dort fünf Jahre. Hier lernte er Auguste Rodin und Paula Modersohn-Becker kennen und eroberte sich den Kunstmarkt. 1908 wurde Bankier Freiherr August von der Heydt auf ihn aufmerksam und holte ihn nach Elberfeld. Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein berief ihn 1911 an die Darmstädter Künstlerkolonie Mathildenhöhe. 1914 ließ sich Hoetger in Worpswede nieder, dessen architektonische Erscheinung er nachhaltig prägte. Der Keksfabrikant Hermann Bahlsen zählte 1917-19, der Kaffeemagnat Ludwig Roselius ab 1923 zu seinen Förderern. Im Auftrag von Roselius baute Hoetger das Paula-Becker-Modersohn-Haus (1926/27) und das Haus Atlantis (1930/31) in der Bremer Böttcherstraße.
Im NS-Staat wurde Hoetger von der Presse stark angegriffen, das Friedrich Ebert-Denkmal (1928) in Dortmund-Hörde, das Bremer Revolutionsdenkmal (1922) und die Figuren am Bremer Volkshaus (1928) demontiert. Dennoch trat er 1934 der Auslandsorganisation der NSDAP bei, wurde aber 1938 wieder ausgeschlossen. Ein Jahr zuvor hatten die Nationalsozialisten im Rahmen der Aktion „Entartete Kunst“ 14 Kunstwerke aus Museumsbesitz beschlagnahmt, darunter auch die Bronze „Sent M’Ahesa“ (1922) im Museum für Kunst und Kulturgeschichte. 1946 siedelte Hoetger in die Schweiz über, wo er drei Jahre später in Interlaken verstarb. 1968 erhielten er und seine Frau ein Ehrengrab auf dem Dortmunder Ostfriedhof.