Der Traum vom Minimalismus

Tiny Houses (“winzige Häuser”) sind längst mehr als nur ein Trend. Ursprünglich stammt die Idee aus den USA. Hier stellen die kompakten Wohngelegenheiten überraschenderweise die Antwort auf steigende Grundstücks- und Immobilienpreise sowie übermäßigen Konsum dar.

Sowohl als Modulhaus als auch als Haus auf Rädern erfreuen sich die Minihäuser wachsender Beliebtheit rund um den Globus. Zumeist beläuft sich die Wohnfläche auf bis zu 45 m2 Wohnfläche, eine feste Definition gibt es nicht.

Die Idee vom minimalistischen Lebensstil hat auch Jenny Müller (selbstständig im Bereich PR und Eventmarketing) und Marco Schaller (Angestellter) gepackt. Seit 2018 arbeitet das Paar an der Realisierung seines eigenen Wohntraums und hat die Tiny House Tour UG gegründet.

Ihr Haus bauen sie in Eigenregie, die Kenntnisse über Materialien und erforderliche Bauschritte sowie -vorgaben haben sie sich ebenfalls selbst angeeignet. Bewusst haben sie sich für eine mobile Variante entschieden, ihr Tiny House findet auf einem speziell dafür angefertigten Anhänger Platz: „Wir bauen ein Haus und bereisen damit die Welt“, so Marco Schaller. Wir haben mit den beiden über ihre Motivation und das Potenzial der Tiny Houses gesprochen.

Kulturabdruck: Was fasziniert euch an dem Konzept „Tiny House“?

Jenny Müller: Sich wirklich aufs Wesentliche zu reduzieren. Aktuell haben wir in Leipzig eine 63m2-Wohnung und nutzen den Großteil eigentlich gar nicht, weil wir viel Zeit draußen verbringen. Im Tiny House werden viele Bereiche und Applikationen mehrfach verwendet, wodurch viel Raum eingespart wird.

Jenny Müller und Marco Schaller

Marco Schaller: Wir leben alle mit der Vorstellung, dass wir Büro, Schlafzimmer, Küche benötigen. Mich hat die Idee gepackt, Räume modular zu verwenden. Warum bringen wir beispielsweise einen Tisch nicht so flach an die Wand, dass man ein Büro im Wohnzimmer hat, wenn man ihn ausklappt? Kleinere Räume sparen Geld, man muss weniger Fläche sauber halten, kann weniger heizen und so weiter. Tiny Houses sind exakt dem Leben der Bewohner angepasst. Diese Vorstellung finde ich extrem clever.

Kulturabdruck: Wie habt ihr euer Tiny House geplant?

Marco Schaller: Ich habe die Entwürfe bestimmt 20 oder 30 Mal verändert. Es war klar, dass wir eine große Küche benötigen, weil wir irgendwann Selbstgemachtes aus dem Haus heraus verkaufen wollen. Außerdem brauchen wir eine kleine Büroebene und ein vernünftiges Schlafzimmer mit Bett.

An diesen Punkten haben wir die Planung ausgerichtet. Problematisch wurde, dass uns die Erfahrung fehlte und wir einige Überlegungen umschmeißen mussten. „Ich will es und ich brauche es“ – das sind zwei völlig verschiedene Sachen!

Jenny Müller: Dadurch, dass wir mit unserem Tiny House mobil sein wollen, müssen wir uns auf 3,5 Tonnen beschränken. Daher stellte sich die Frage nach Materiellem gar nicht, weil wir einfach keinen Platz dafür haben. Wir mussten uns nur Gedanken über Dinge wie Waschmaschine, Geschirrspüler und so machen. Jeder hat einen Koffer und der Rest muss weg.

Kulturabdruck: Seht ihr diesen Minimalismus als Kompromiss?

Jenny Müller: Von meinem Mindset und meiner derzeitigen Perspektive ausgehend würde ich sagen, das wird easy. Ich kann mich damit arrangieren. Wie es sich dann wirklich damit lebt, wird sich dann zeigen. Man schafft ein neues Bewusstsein und hinterfragt: Muss ich das wirklich haben? Seit wir mit der Idee gestartet sind, haben wir beispielsweise nur Dinge angeschafft, die einen Platz im Tiny House haben werden.#

Marco Schaller: Ich habe in den vergangenen Jahren bereits angefangen, mich beispielsweise auf meine Lieblingskleidung zu reduzieren. Ich fand das extrem erleichternd. Denn ich brauche nur meine Klamotten, mein Laptop und die Kamera. Alles andere habe ich in digitaler Form.

Mit dem Haus auf Tour

Kulturabdruck: Ihr habt geplant, mit eurem Tiny House zu reisen. Daher auch der Name „Tiny House Tour“. Wie sehen eure konkreten Pläne aus?

Jenny Müller: Wir waren vor Corona drei-, viermal pro Jahr unterwegs. Was mir aber immer gefehlt hat, war mein eigenes Bett, was sich mit dem Tiny House ändern wird. Zum einen können wir unser Zuhause mitnehmen. Zum anderen haben wir die „Tiny House Tour UG“ gegründet und möchten unsere Reisen mit einem Geschäftsmodell verknüpfen: Über Youtube und Social Media geben wir Einblicke in die Community – zum Beispiel reisen wir zu anderen Tiny-House-Besitzern und führen Interviews –, geben Tipps zum Bauen und wollen die Menschen auf unserem Weg zu nachhaltigem und bewusstem Konsum mitnehmen.

Mit Haus auf Reisen

Außerdem möchten wir in Zukunft mit unserem Haus auf Märkten und ähnlichem stehen und Crêpes sowie weitere gesunde Snacks verkaufen. Das ermöglicht uns, nicht mehr gefühlt gehetzt reisen zu müssen, sondern auch länger an einem Ort verweilen zu können.

Kulturabdruck: Wann soll es losgehen?

Jenny Müller: Tatsächlich hat uns Corona ein wenig Druck genommen, was Reisen, Messen, Festivals und Ähnliches angeht, da das alles aktuell nicht wie gewohnt stattfinden kann. Daher geht es los, wenn wir so weit sind, Deadlines legen wir uns nicht mehr. Bis dahin läuft unser Mietvertrag und wir kommen mit dem Einkommen aus unseren regulären Jobs gut zurecht.
Aktuell bauen wir die „Tiny House Tour UG“ nebenbei auf, investieren unter anderem Zeit in den Online-Auftritt, am Haus bauen wir nach bestem Wissen und Gewissen weiter. Wir sehen unser Tiny House als unser großes Projekt für die erste Lebenshälfte und genießen es ausgiebig.

Blick in die Zukunft

Kulturabdruck: Für wen ist ein Tiny House eine gute Alternative?

Jenny Müller: Ich würde es jedem empfehlen, der fähig ist, sich aufs Wesentliche zu reduzieren und auf engem Raum zu leben. Beispielsweise für Paare, die sich selbst genug sind, und die sich so gut kennen, dass sie wissen, welche Streitkultur sie haben, was jeder braucht, die sehr reflektierend miteinander umgehen.
Auch für Singles und Rentner stellen die Minihäuser eine gute Option dar. Eine schöne Geschichte haben wir von einer Rentnerin gehört, die ein Tiny House im Garten ihrer Kinder bezogen hat. So kann sie mehr Zeit mit ihren Enkeln verbringen.

Blick in das Tiny House

Marco Schaller: Ich empfehle es allen, die im Kopf schon so weit sind, sich vom Konsum zu lösen, sich reduzieren und aufs Wesentliche konzentrieren wollen. Das ist ein ganz großes Thema beim Minimalismus. Im Tiny House hat man kaum Besitz, ist viel in der Natur und beschäftigt sich mit sich selbst.

Kulturabdruck: Ist das Tiny House eurer Meinung nach Bestandteil unserer zukünftigen Wohnkultur?

Marco Schaller: Wenn man von den Tiny Houses auf Rädern absieht, denke ich schon. Es wird eine gewisse Randerscheinung bleiben, aber fester Bestandteil werden. Denn die Kosten und die erforderliche Fläche beim Hausbau führen zwangsläufig zu einem Umdenken. Ein kleineres Haus mit Grundstück kostet mich beispielweise 100.000 Euro, ein größeres Haus 250.000 Euro.
Dann spare ich mir das lieber und muss nicht bis zur Rente einen Kredit bedienen. Es gibt viele Gemeinden, die Zuzug wünschen und die alles versuchen, um solche Konzepte zu ermöglichen. Im Fichtelgebirge gibt es beispielsweise ein Dorf, in dem das Konzept bereits etabliert wurde.

Jenny Müller: Für Rentner könnte ich mir gut vorstellen, dass es zukünftig Verbände oder Siedlungen mit mehreren altersgerechten Tiny Houses als Alternative zu Pflegeheimen geben wird. Dort können die Menschen dann betreut und selbstbestimmt wohnen.

Kulturabdruck: Vielen Dank für das Gespräch!

Weitere Infos: https://tiny-house-tour.de