Der ungeliebte Ritter der Arbeiterklasse

Paul Dessaus „Lanzelot“ sollte eine der ambitioniertesten Opernproduktionen der DDR werden – ein musikalisches Prestigeprojekt zum 20. Jahrestag der Staatsgründung. Doch das 1969 uraufgeführte Werk entsprach allenfalls in der Widmung den Forderungen des sozialistischen Realismus. Nach wenigen Aufführungen verschwand es von den Bühnen, bis zur Wiederentdeckung durch eine gemeinsame Initiative der Theater in Weimar und Erfurt verging ein halbes Jahrhundert.

Der Drache hat die Menschen von der Cholera befreit, sie bei dieser Gelegenheit aber unter das Joch eines diktatorischen Regimes gezwungen. Den Beherrschten scheint das wenig auszumachen, weder Abgaben noch Menschenopfer stoßen auf den geringsten Widerstand. Mit dem fremden Ritter, der eines Tages auftaucht, um den Drachen zu töten, will folgerichtig niemand etwas zu tun haben. Mit Ausnahme von Elsa, die das nächste Oper des skrupellosen Herrschers werden soll …

„Allen die in unserer Republik für den Sozialismus kämpfen und arbeiten“, widmete Paul Dessau seine Oper, die freilich nur bei flüchtigem Hinschauen und -hören als Kampf eines imperialistischen Drachens gegen den revolutionären Ritter des Arbeiter- und Bauernstaates gedeutet werden kann. Der Komponist und sein Textdichter Heiner Müller, der das Libretto nach einer Komödie von Jewjeni Schwarz entwickelte, dachten offenbar deutlich weiter und entwickelten eine verblüffend vieldeutige Parabel über Freiheit, Macht(missbrauch) und die achselzuckende, im Zweifelsfall wegschauende, und stets nach Deckung suchende Mehrheit.

Satire mit vielen Zielscheiben

Dialektik statt Linientreue ist das eigentliche Motto und so könnte dieser Drache durchaus ein SED-Emblem auf dem Schmerbauch tragen oder Insignien anderer, verstorbener oder noch lebender Autokraten. Sie würden für Dessaus Partitur, die aus einem spektakulären Stilmix eine vielschichte, aber durchaus einheitliche Tonsprache gewinnt, vermutlich ebenso wenig Begeisterung aufbringen wie die sogenannten Kulturpolitiker der einstigen DDR.

Zumal es auch noch den hintergründigen, oft rabenschwarzen und vielfach zeitlosen Humor des „Lanzelot“ zu verdauen gilt, wenn etwa der Drache seine egozentrischen Memoiren diktiert, die tumben Untertanen im Fernsehraum überwacht und die Verfassung – „zum Schutz der Verfassung“ – außer Kraft setzt; wenn der Bürgermeister die rasante Bildung einer Schein-Opposition befiehlt, Lanzelot lukrative Angebote von einem als Kunsthändler getarnten PR-Agenten bekommt oder der besiegte Diktator von einem ominösen Präsidenten beerbt wird, der die Früchte eines Kampfes ernten will, an dem er überhaupt nicht beteiligt war. Sogar der Auftritt dreier Arbeiter, die Lanzelot mit Eisenmütze, fliegendem Teppich und elektrischem Schwert ausrüsten, mutiert zu einer boshaften Persiflage auf die Leistungsfähigkeit der plangeleiteten Volkswirtschaft. Würde sich in diesem Jammertal jemand wundern, wenn Lanzelot auf das schmierige Angebot des Drachen einginge? „Verkneif dir deinen Heldentod und wir teilen die Jungfrau, okay?“

Eindrucksvolle Ensembleleistung

Die Corona-Pandemie erschwerte das Comeback der Oper in der Neuinszenierung von Peter Konwitschny erheblich, doch die erste Einspielung geriet zu einer Referenzaufnahme. Auch wenn die Balance zwischen Sängern und Orchester bei diesem Live-Mitschnitt nicht immer optimal ist, begeistern Emily Hindrichs (Elsa), Máté Sólyom-Nagy (Lanzelot) und Oleksandr Pushniak (Drache) durch ebenso stimmgewaltige wie differenzierte Auftritte. Der Opernchor des Deutschen Nationaltheaters, der Chor des Theaters Erfurt und der Kinderchor schola cantorum weimar lösen schwierige Aufgaben eindrucksvoll und scheinbar unangestrengt.
Dirigent Dominik Beykirch behält dabei stets die Übersicht, auch wenn in der ohnehin schon voll besetzten Staatskapelle Weimar noch seltene Gäste wie Mandoline, Gitarre, Akkordeon, elektrische Orgel, Donnerblech, Windmaschine oder Eisenketten auftauchen.

Dass „Lanzelot“ nun regelmäßig auf deutschen Bühnen zu sehen ist, darf gleichwohl bezweifelt werden. Fast drei Dutzend Solopartien, die komplexen Chorsätze und der gewaltige Orchesterapparat werden viele Theater vor kaum überwindbare Herausforderungen stellen. Wenn ein Haus das Unternehmen wagt, sollten es Opernfreunde allerdings keinesfalls verpassen!

Paul Dessau, Lanzelot, 2 CDs, audite