Der Wind auf dem Friedhof

Um ihn herum tobte der Zweite Weltkrieg und der stalinistische Terror – doch in Sergej Prokofjews Werken für Violine und Klavier hinterließ die Außenwelt scheinbar wenig Spuren. Wenn man sich allerdings intensiver mit diesem Oeuvre beschäftigt, werden sie immer tiefer.

Schon die ersten Takte der 1946 vollendeten Sonate Nr.1 werfen in düsterem f-moll Schlaglichter auf eine trostlose Szenerie. Einige Minuten später setzen dann die unheimlichen Geigenläufe ein, mit denen Prokofjew nach der Erinnerung des großen Geigers David Oistrach den „über einen Friedhof ziehenden Wind“ gestalten wollte. Gegen Ende des vierten Satzes werden wir ihm noch einmal begegnen. Kein Ton gemahnt hier an Siegesfeiern und Heldengedenken, die Trauer über den Verlust unzähliger Menschenleben scheint alle anderen Gedanken zuzudecken.

Doch es gibt ihn durchaus, den unbändigen Lebenswillen, der durch das atemlose „Allegro brusco“ tobt, um schließlich in das schillernde, sich immer neu und anders erfindende Andante zu fallen. Chamäleonartig verwandeln sich die Gedanken und Stimmungen, die nach Ausdrücken für das Undenkbare zu suchen scheinen.

Unberechenbar wie die Sonate war auch die Reaktion der sowjetischen „Kultur“politik, denn Prokofjew wurde für dieses – aus Diktatorensicht doch eher avantgardistische Werk – nicht etwa gemaßregelt, sondern mit dem Stalinpreis ausgezeichnet. Auch die 2. Sonate, die aus einer Fassung für Flöte und Klavier hervorging und zwei Jahre vor der ersten (weil früher begonnenen) uraufgeführt wurde, trägt Spuren ihrer Entstehungszeit. Während der zweite und vierte Satz mit exorbitanten Schwierigkeiten aufwarten, gilt es in Moderato und Andante den richtigen Ausdruck für eine seltsame sowohl schwermütige als auch nervöse Grundstimmung zu treffen.

Dem eingespielten Duo Thomas Albertus Irnberger und Michael Korstick gelingt nicht nur dieser Balanceakt. Sie spielen beide Werke, aber auch die grandiose Sonate für Solovioline op.115, die Melodien op.35a und fünf arrangierte Stücke aus dem „Cinderella“-Ballett mit technischer Brillanz, perfektem Timing und einer Wandlungsfähigkeit, die den vielen Charakteren dieser Musik gerecht wird.

Irnberger hat die Aufnahme dem berühmten Geiger Igor Oistrach gewidmet, der wie sein Vater David und Prokofjew selbst aus dem Osten der heutigen Ukraine stammte. Dass alle drei – Prokofjew in der Nähe von Bachmut, die Oistrachs in Odessa – in einem Land geboren wurden, das heute Opfer eines brutalen Angriffskriegs der Russischen Föderation ist, verleiht dieser Aufnahme eine traurige Aktualität. Der Wunsch des Aufnahmeteams, „dass das Erscheinen dieses Doppelalbums mit einem baldigen Ende der grausamen Ereignisse in der Ukraine zusammenfällt“, scheint sich nicht zu erfüllen.

Sergej Prokofjew: Werke für Violine & Klavier, 2 SACD, Gramola