Das Mittelalter liegt mehr als ein halbes Jahrtausend zurück und gilt Vielen als ein dunkles Zeitalter voller Gewalt und Aberglauben. Auf der anderen Seite beschäftigt uns seine Geschichte, Kunst und Kultur bis heute – und Mittelalterspektakel gehören längst zum festen Bestandteil der Eventkultur. Handwerk, Kleidung, Kämpfe und Kulinarik scheinen den Geschmack vieler Menschen zu treffen. Worin aber besteht die Faszination dieser Epoche? Die Autorin Olivia Swarthout hat sich in mittelalterlichen Handschriften auf Spurensuche begeben.
Das vorläufige Ergebnis liegt nun vor: ein 200-seitiges, schillerndes Panoptikum mittelalterlicher Kuriositäten. „Die meisten Abbildungen und Geschichten in diesem Buch stammen aus Handschriften, die vor 500 bis 1.500 Jahren angefertigt wurden,“ erklärt Swarthout. Kurioses Detail: Die Buchillustrationen standen in aller Regel in keinem inhaltlichen Kontext zu den enthaltenen Texten. Sie scheinen vielmehr das Resultat der zum Teil überbordenden Lust der Illustratoren an Kuriositäten und Verdrehungen der Realitäten zu sein. „Oft wirken die Buchillustrationen wie ein intimer Einblick in die mittelalterliche Seele.“
„Illustratoren mittelalterlicher Handschriften schufen ihre Kunst nicht in Erwartung, dass sie einmal öffentlich ausgestellt würden. Bücher waren Raritäten in Privatbesitz, die nur wenige Menschen lesen und noch weniger sich leisten konnten,“ schreibt Swarthout. 2019 begann die Autorin diesen wundervollen Schatz aus den digitalisierten Handschriften, die oftmals verborgen in den Sammlungen der Bibliothèque nationale de France sowie der British Library schlummerten, zu heben. Über 110.000 Follower kümmern sich gemeinsam mit Swarthout über ihren Instagram-Account ➤ weirdmedievalguys um die Wiederentdeckung und Interpretation der mittelalterlichen Illustrationen.
Einen Teil dieser prallen, bunten und verrückten Bilderwelt des Mittelalters hat die Autorin inzwischen in einem Buch zusammengefasst, das mittlerweile auch in deutscher Übersetzung vorliegt: „Ritter, Fräulein, Ungeheuer oder einfach durchgeknalltes Mittelalter. Vom Leben, Lieben, Lachen (und Sterben) in dunklen Zeiten.“ Augenzwinkernd, ironisch und zum Teil auch mit einer gehörigen Prise britischen Humors (vgl. z.B. den Film „Die Ritter der Kokosnuss“ der britischen Comedy-Gruppe Monty Python) wagt sich die Autorin an die Interpretation wahrhaft „durchgeknallter“ Situationen und fantastischer Lebewesen. Ein gelungener Lesespaß, der in die Welt des Mittelalters entführt. Hier wird auf unwiderstehliche Art und Weise die Phantasie angeregt. Der bei der Lektüre entfachten Neugier, intensiver in das Leben in dieser faszinierenden Epoche einzutauchen, werden sich nur die Wenigsten entziehen können.
„Die Mühsal. Wie man Leben, Liebe und Tod überlebt“. Der so überschriebene erste Teil des Buches nimmt die Lesenden an die Hand und führt in den mittelalterlichen Alltag ein. Es geht um Mittelalter-Slang, die Suche nach dem geeigneten Wohnort, passenden Beruf und natürlich dem geeigneten Partner fürs Leben. Die Herstellung von Liebestränken wird ebenso thematisiert wie das Handling von Eheproblemen, bevor dann auch schon der Sensenmann aus den unterschiedlichsten Gründen vor der Tür steht. Eine entsprechende Portion Phantasie vorausgesetzt, lässt sich so eine eigene individuelle mittelalterliche Existenz schaffen, die sich gegenüber Killerhasen, Drachen, Schnecken und anderen fantastischen Lebewesen behaupten muss.
Den zweiten Teil des Buches bildet ein sogenanntes Bestiarium. Dabei handelte es sich nicht um systematische naturkundliche Beschreibungen, sondern Bücher, in denen neben einheimischen und exotischen Tieren auch eine ganze Reihe von Monstern und Fabeltieren mit ihren jeweils fantastischen Eigenarten beschrieben wurden. Die Leser begegnen hier nicht nur bekannten Geschöpfen wie Löwen, Bären, Hunden und Bienen, sondern erfahren allerlei Kurioses über das Leben und die Bedeutung des Mantikor, des Zentaurs, der Sirene sowie der Meerjungfrau.
Am Ende der witzigen, spannenden und sehr unterhaltsamen Lektüre bleibt die Erkenntnis, dass sich der tatsächliche Sinn der mittelalterlichen Illustrationen bisher nicht eindeutig klären lässt. Ihr besonderer Reiz lag von Beginn an in ihrer Ambivalenz und die sorgt wahrscheinlich auch heute immer noch für die Anziehungskraft der bunten Kleinodien. Wer diesen Darstellungen genauer auf den Zahn fühlen möchte, findet am Ende des Buches eine ausführliche Liste mit sämtlichen Bildnachweisen für die im Buch enthaltenen Illustrationen.
Olivia Swarthout: Ritter, Fräulein, Ungeheuer oder einfach durchgeknalltes Mittelalter. Vom Leben, Lieben, Lachen (und Sterben) in dunklen Zeiten, Münchner Verlagsgruppe – Riva, 16 €