Die Dividende des Raubtiers

Aufgelesen (22): Wilhelm Vershofens Finanznovelle „Der Fenriswolf“.

Die Berliner Bank für Industrie und Handel hat es auf die Ausbeutung der norwegischen Wasserkräfte abgesehen, weil die geographischen Bedingungen astronomische Gewinne für unterschiedlichste Industriezweige versprechen. Zwar gibt es innerhalb des Landes eine starke Opposition gegen Privatkapital im Allgemeinen und ausländische Investitionen im Besonderen. Doch die Finanzjongleure ziehen alle Register, um ihr Ziel zu erreichen.

In der nordischen Mythologie ist der gefräßige Fenriswolf nicht zu bändigen, bis die Zwerge eine Fessel aus Dingen fertigen, die in der realen Welt nicht existieren: Der Bart der Frauen, die Wurzeln der Berge und die Stimme der Fische bilden mit weiteren Zutaten den magischen Faden Gleipnir. Doch selbst er hindert den Fenriswolf nicht daran, dem Gott Tyr eine Hand abzubeißen und sich am Tag des Weltuntergangs wieder zu befreien.

Wem Vershofens Titelfigur mindestens eine metaphorische Nummer zu groß ist, kann bei der Bezeichnung „Finanznovelle“ wieder aufatmen. Sie unterstreicht den experimentellen Charakter des Textes, der aus fiktionalen Geschäftsbriefen, Telegrammen, Zeitungsartikeln und Protokollen besteht. Betont nüchtern entwickelt die Novelle eine folgenschwere Transaktion, in deren Verlauf die Bank für Industrie und Handel zunächst persönliche Kontakte und politische Allianzen auslotet. Es folgen zwielichtige Finanzmanöver mit Strohmännern und Scheinfirmen, Börsenmanipulationen rund um den Erdball, Bestechungsversuche, feindliche Übernahmen und immer neue Versuche, die Presse zu beeinflussen. Dr. Walter Vranken, der lange Arm der deutschen Bank im norwegischen Christiania, hat da genaue Vorstellungen:

Eine Beteiligung am „Dagbladet“ wird dank der geschickten Bemühungen des Herrn Sorrelsen nicht mehr als 120.000 Mark erfordern. Es sollen mit dieser Summe hauptsächlich technische Verbesserungen bewerkstelligt werden, die eine größere Leistungsfähigkeit des Blattes ermöglichen. Jedoch soll auch ein Teil der Summe für eine aussichtsreiche Propaganda Verwendung finden. (…) Zur Stabilisierung der sonstigen wirtschaftspolitischen Äußerungen des Blattes wird eine besondere Pressekommission gebildet, in der das Direktorium der neuen Bank entscheidenden Einfluß hat.

Doch weder Vranken noch sein Vorgesetzter, der Kommerzienrat Heinrich Böhle, noch ihre norwegischen Komplizen taugen als klassische Bösewichter. Der Autor zeichnet sie vielmehr als Erfüllungsgehilfen eines amorphen internationalen Finanzkapitalismus, der auf der Suche nach den billigsten Produktionskosten und dem größten Ertrag eine „riesenhaft wuchtige Maschine von kunstvollster Konstruktion“ bildet, die schon seit geraumer Zeit ohne menschliche Wesen und deren Bedürfnisse auskommt. „Wir planen alle viel“, sinniert der Kommerzienrat, „und müssen doch der Wucht des Augenblicks gehorchen.

Weniger schicksalsergeben wehrt sich die norwegische Linke gegen den Versuch, Mensch und Natur „unter das Joch dividendentragender Arbeit zu pressen“. Da sie nur sehr bedingt bereit ist, die Interessen des Landes über die der Partei zu stellen, bleibt ihr der Erfolg allerdings verwehrt. Doch dem liberalen Vordenker Dr. Vaermland ergeht es nicht besser. Er hat seine Ideale schweren Herzens zu Grabe getragen, obwohl er ahnt, dass der Turbokapitalismus mit viel einfacheren Mitteln zu zügeln wäre als der legendäre Fenriswolf:

Wenn sich das auch nur wollen ließe auf diesem einen gigantischen Wirtschaftsgebiet: die Allgemeinheit als Unternehmer und sonst niemand! Diese große Tat sicherte mein Land auf ewig vor allem sozialistischen Kleinkram und aller wirtschaftlichen Quacksalberei.

Dem Kommerzienrat sind solche Visionen ebenso gleichgültig wie das Parteibuch seiner Geschäftspartner. Wer sich der dividendentragenden Arbeit verschreibt, ist immer willkommen. Für die bevorstehende Neuwahl setzt Böhle deshalb auf ein „festgefügtes Kartell der Rechten“.

Zwischen Kunst, Politik und Wirtschaft

Der 1878 in Bonn geborene Wilhelm Vershofen brachte gute Voraussetzungen mit, um Wirtschafts- und Finanzfragen mit literarischen Mitteln zu betrachten. Er studierte neben Germanistik, Anglistik, Philosophie und Kunstgeschichte auch Rechtswissenschaft und Volkswirtschaft und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der „Werkleute auf Haus Nyland“, die ein synthetisches Verständnis von Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft anstrebten. Vershofen promovierte über Shakespeare und hatte Leitungspositionen verschiedener Industrieverbände inne. 1934 gründete er die „Gesellschaft für Konsumforschung“, die heute unter dem Namen „Growth from Knowledge“ firmiert.

Vershofen war auch politisch aktiv. 1919 zog er als Kandidat der „Deutschen Demokratischen Partei“ in die verfassungsgebende Nationalversammlung ein. 14 Jahre später unterschrieb er das „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“. Er wurde zwar nie Mitglied der NSDAP, von Publizisten des Dritten Reiches aber als Vertreter der „Blut und Boden“-Ideologie gefeiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg unterstützte Vershofen die späteren Regierungskoalitionäre SPD und FDP.

In sechs Jahrzehnten veröffentlichte Wilhelm Vershofen zahlreiche wirtschaftswissenschaftliche Arbeiten, aber auch philosophische Schriften, Erzählungen und Novellen. „Der Fenriswolf“, der 1913 bereits anonym erschienen war und 1914 im Verlag Eugen Diederichs veröffentlicht wurde, blieb sein bekanntestes literarisches Werk.