Der nachfolgende Fall aus dem Stadtarchiv in Lingen illustriert, wie auch das späte 18. Jahrhundert noch Angst vor Hexen und anderen bösen Mächte hatte. Er zeigt aber auch, dass die (weltliche) Justiz nicht mehr abergläubisch und nach leichten Anlaufschwierigkeiten bemüht war, die Fackel der Vernunft hochzuhalten.
In der Großen Straße 16 in Lingen stand einst das Haus der Familie Hotze. Im 18. Jahrhundert führte Joost Frederick Hotze als Gasthausmeister das Armenhaus Antonius-Gasthaus, und sein Sohn Friedrich Hotze folgte ihm im Amt nach. 1798 wohnten in dem Haus aber nur noch Friedrichs 56jährige Tochter Maria Sophie, die einen Kleinhandel betrieb, und seine 77jährige Schwester Anna Elisabeth, die zeit ihres Lebens unverheiratet geblieben war und deshalb gemeinhin „Jungfer Hotze“ genannt wurde.
Am 25. November 1798, einem Sonntag, kam die Frau des Schlossers Mittelhäuser in der Großen Straße vorbei und lud die alte Jungfer Hotze zu einem Kaffee ein, ihr Mann habe etwas mit ihr zu besprechen. Die Nichte Maria Sophie erkundigte sich bei der Gelegenheit nach dem kranken Kind der Frau Mittelhäuser. Dem gehe es wieder besser, antwortete sie.
Am Nachmittag folgt die Jungfer Hotze der Einladung und geht zum Haus der Familie Mittelhäuser in der Kirchstraße 8. In der Stube trifft sie nicht nur das Ehepaar Mittelhäuser an, sondern auch mehrere ihrer Nachbarn und Freunde, darunter die Ehefrau des Schusters Janssen. Sie alle stehen um das Kind herum, dem es alles andere als besser geht: es liegt im Sterben. Die Jungfer Hotze wird herzlich empfangen, trinkt zwei Tassen Kaffee. Sie fragt Frau Janssen, warum sie hergebeten wurde, doch die tut so, als wüsste sie von nichts. Die Stimmung wird gereizter. Herr Mittelhäuser erklärt, böse Leute hätten dem Kind ein Übel angetan, und Teufel und Donner sollen sie schlagen. Und der inzwischen eingetroffene Soldat Herz stellt dreiste und zweideutige Fragen. „Ich kann hexen, Jungfer Hotze, kann sie es auch?“
Die 77-Jährige will aufstehen und gehen. Da greift sie der Soldat an den Armen und zwingt sie, sich wieder zu setzen – noch Tage später sind die Druckmale sichtbar – und der Schlosser Mittelhäuser verriegelt die Stubentür. Jungfer Hotze bittet Frau Janssen, ihr die Tür zu öffnen, aber niemand im Raum reagiert. Erst als der Soldat Herz sich verabschiedet, wird die Stubentür wieder geöffnet. Doch gehen kann die Jungfer Hotze noch immer nicht. Denn Frau Mittelhäuser versperrt die Tür von der Diele aus, mit dem Rücken an der Tür und beiden Beinen auf einen Amboss gestemmt. Dann kommt der Schuster Janssen hinzu. In der Diele trifft er zunächst auf Frau Mittelhäuser. Was sie denn da mache? Die antwortet, sie wolle noch nicht, dass die Jungfer Hotze gehe. An ihr vorbei betritt Janssen die Stube. Dort tauscht er mit der Jungfer Hotze ein paar Belanglosigkeiten aus und begleitet sie dann nach draußen. In der Diele begegnen sie Frau Mittelhäuser. Jungfer Hotze grüßt, und Frau Mittelhäuser erwidert: „Adieu, Jungfer Hotze“.
Ziegenmilch und Teufelsdreck
Erst später erfährt die Jungfer Hotze den Grund für den Vorfall. Denn Janssen erzählte es seinem Nachbarn, dem Tischler Hornemann, und der ist ein Freund und täglicher Gast im Hause Hotze. Die Eheleute Mittelhäuser waren überzeugt, die Jungfer Hotze habe ihr Kind, das tatsächlich noch am selben Tag gestorben ist, behext. Jungfer Hotze sieht ihre Ehre und ihren guten Namen verletzt. Sie nimmt sich einen Anwalt und verklagt die Mittelhäusers vor dem Magistrat wegen Beleidigung. „Am Ende des 18ten Jahrhunderts solle mann sich kaum die Kläglichkeit eines solchen schändlichen Vorurtheils denken“, schreibt Rechtsanwalt Raydt am 4. Dezember 1798 in die Anklageschrift.
Das Ehepaar Mittelhäuser bot eine Entschuldigung an. Man habe sie ja gar nicht beleidigen wollen. Aber die Jungfer Hotze ging darauf nicht ein. Und so kam es zum Verfahren. Die Zeugenverhöre brachten schließlich Licht ins Dunkel. Die Jungfer Hotze war nämlich früher einmal in das Haus der Mittelhäuser gekommen, hatte Bohnenschalen gebracht und nach Ziegenmilch gefragt. Das Ehepaar meinte, dass ihr Kind genau seit diesem Zeitpunkt krank gewesen sei, „als wenn es mit Nadeln gezwikkelt werde“, und ihre Ziege seitdem keine Milch mehr gebe. Die befreundeten Ehepaare Herz und Janssen redeten ihnen daraufhin ein, dass die Jungfer dem Kind also offensichtlich Böses angetan und mit Schmerzen belastet hatte. Vielleicht hätte sie es gar nicht absichtlich getan, sondern der Schaden entstand durch ihre bloße Gegenwart und könne durch ihre Gegenwart auch wieder behoben werden. So entstand der Plan, die Jungfer Hotze unter einem falschen Vorwand in die Nähe des Kindes zu locken.
Auch das Ehepaar Janssen war an diesem Plan beteiligt. Denn die Witwe Naber sagte aus, sie habe an besagtem Sonntag mit Frau Jansen aus der Kirche kommend Frau Mittelhäuser getroffen. Auf die Frage „Wird sie kommen?“ habe Frau Mittelhäuser mit „Ja“ geantwortet, und Frau Janssen erwiderte: „Sonst müsse man sie holen lassen.“ Durch eine „Entzauberung“ wollten sie das Leben des kranken Kindes retten. Irgendwer schlug vor, den Raum währenddessen mit Teufelsdreck auszuräuchern, einer Pflanze, der heilende Wirkung zugeschrieben wurde und die heute besser als Asant bekannt ist. Doch dazu kam es nicht. Die Situation eskalierte, vor allem wegen der Gewalttätigkeiten des Soldaten Herz.
Der Magistrat urteilte schließlich, dass das Ehepaar Mittelhäuser vor versammeltem Magistrate sowie im Beisein des Predigers Horkel und der verhörten Zeugen einen Verweis erhalte, „daß sie sich durch Aberglauben haben verleiten lassen, der Klägerin sittliches Gefühl zu kränken“. Danach solle ihr Seelsorger, der Prediger Horkel, ihnen eine Strafpredigt darüber halten „wie leicht Aberglaube zu Schritten verleite, wodurch der Ruf des Nächsten beeinträchtigt und die häusliche Ruhe gestöhret were“. Die sollte auch das Ehepaar Janssen hören, die ja „um das ganze Zauberwerk“ gewusst hätten. Was die Belangung des Soldaten Herz angehe, so müsse sie sich an die dafür zuständige Militärbehörde wenden.
Jungfer Hotze legt Berufung ein
Dieses doch sehr milde Urteil begründete der Magistrat damit, dass man über die Jungfer Hotze zwar einigen „Hokuspokus“ gemacht habe, es aber eigentlich gar keine Beleidigung oder Beleidigungsabsicht gegeben habe. „Die Meinung, daß Klägerinn das Hexen verstehe oder vielmehr daß sie einen Zauberblick habe, ist an sich noch keine Beleidigung der Ehre“. Schließlich „sind wir nicht mehr in den Zeiten, wo Hexerey in das Register der großen Verbrechen gehörte, jetzt zieht der Vorwurf keine Inquisition, noch viel weniger Hexen-Proben und Feuer nach sich“. Der Vorwurf, „zauberische Blicke“ zu haben, könnte ihr nur die „Verachtung von Leuten ihres Standes“ einbringen, wenn er wahr sein könnte. Aber „die Hexerey kann nicht wahr seyn“.
Die Jungfer Hotze akzeptierte das Urteil nicht. Über ihren Anwalt legte sie bei der Lingener Regierung Berufung ein. Und dort fand man das Urteil des Magistrats nun gar nicht nachvollziehbar. Denn selbstverständlich habe es sich um eine Beleidigung gehandelt. Denn „wenn gleich in unsern erleuchteten Zeiten kein Vernünftiger mehr an Hexerei glaubt, so ist doch nicht zu leugnen, daß unter den gemeinen Leuten dergleichen Vorurtheile noch herrschen und daß die unausgebildete Volks-Claße manche sonst unbescholtene Leute für angebliche Hexen hält“.
Und so bestünde keinerlei Zweifel, dass „dieser ganze Vorfall bey gemeinen und unkultivirten Leuten einen üblen Eindruck auf die Klägerin machen könnte“. Die Hinzuziehung eines Geistlichen entbehre im Übrigen jeder Rechtsgrundlage. Das Urteil wurde entsprechend abgeändert. Das Ehepaar Mittelhäuser musste am 9. Juli 1799 öffentlich vor Gericht reuig erklären, schuldig zu sein und weder der Ehre noch dem guten Ruf der Jungfer Hotze schaden gewollt zu haben, und der Magistrat sollte ihnen nachdrücklich einen gerichtlichen Verweis erteilen. Danach sollte das Ehepaar für zwei Tage ins Gefängnis gehen oder zehn Reichstaler Strafe zahlen. Sie gingen ins Gefängnis. Die Ehre der Jungfer Hotze war damit wiederhergestellt. Sie starb 1806 im hohen Alter von 85 Jahren.