Flucht in das Licht

Ein knappes Jahrhundert nach ihrer Fertigstellung erlebte die Oper „Grete Minde“ im Februar 2022 ihre Uraufführung am Theater Magdeburg. Das Hauptwerk des bis dahin nahezu unbekannten Komponisten Eugen Engel liegt nun auch auf CD vor.

„Halte dich an´s Leben und bete nicht so viel“ – der Ratschlag der gutmütigen Emrentz stößt bei ihrer bigotten Nachbarin Trud, die mit dem Tangermünder Ratsherren Gerdt Minde verheiratet ist, auf taube Ohren. Sie klammert sich mit der schweigenden Mehrheit ans Streng-Lutherische und Bürgerlich-Wohlanständige, so schwer es ihr auch fällt, die abgrundtiefe innere Leere immer wieder aufzufüllen. Grete Minde, Truds verhasste Schwägerin, zögert dagegen nicht, „in das Licht“ zu fliehen, an der Seite ihres Geliebten Valtin die Stadt zu verlassen, mit unehelichem Kind zurückzukehren und so Konventionen über Bord zu werfen, um ihren eigenen Vorstellungen von Liebe und Freiheit gehorchen zu können. Der Kampf der gesellschaftlichen Normerfüllung gegen das Recht auf Selbstbestimmung und Gerechtigkeit endet in einer Katastrophe, die ein Geflecht schwierig zu beantwortender Fragen nach Schuld, Verantwortung und moralischer Verhältnismäßigkeit aufwirft. Grete entfesselt eine Feuersbrunst, in der nicht nur sie selbst und ihr Kind zu Tode kommen, sondern auch der kleine Sohn von Trud und Gerdt.

Warum sich der 1874 geborene Eugen Engel, der Anfang der 1890er Jahre nach Berlin kam, hier als Kaufmann arbeitete und sich seine musikalischen Kenntnisse offenbar weitgehend im Selbststudium beibrachte, ausgerechnet für Theodor Fontanes Novelle „Grete Minde“ entschied, wird sich wohl nicht mehr feststellen lassen. Dass er alles versuchte, um die 1933 fertiggestellte Oper wenigstens im Ausland zur Aufführung zu bringen, ist durch seine Korrespondenz hingegen belegt. Doch Engels Schicksal nahm eine furchtbare Wendung. Von den Nationalsozialisten außer Landes getrieben, wurde er 1943 in den besetzten Niederlanden interniert und am 26. März dieses Jahres im Vernichtungslager Solibor ermordet. Auch ein Großteil seiner Familie fiel dem Holocaust zum Opfer.

Hans Bodenstedt, der 1914 das Libretto zu „Grete Minde“ verfasst und später mit dem ebenfalls jüdischen, 1942 nach Misshandlungen durch die Gestapo verstorbenen Komponisten Leon Jessel zusammengearbeitet hatte, machte im Dritten Reich dagegen Karriere. Er war u.a. als Direktor der NS-Verlage „Blut und Boden“, „Zucht und Sitte“ und „Ährenlese“ tätig.

Eugen Engels Werke wurden in einem Koffer in die USA gebracht und fanden mehr als sechs Jahrzehnte später den Rückweg nach Deutschland. Aus dem Klavierauszug und der Partitur seiner einzigen Oper ließ Magdeburgs Generalmusikdirektorin Anna Skryleva die Orchesterstimmen erstellen. Am 13. Februar 2022 erlebte „Grete Minde“ am Theater Magdeburg endlich ihre Uraufführung und die breite Resonanz könnte sich nun noch einmal verstärken.

Lenkt doch der CD-Mitschnitt die Konzentration (noch mehr als die Bühnenproduktion) auf die musikalischen Qualitäten des Stückes, die mit den gängigen Geheimtipp-Adjektiven „beachtlich“ und „bemerkenswert“ kaum adäquat beschrieben sind. Denn auch wenn Engels Musik nicht wirklich den „state of the art“ der Entstehungszeit spiegelt, bringt sein spätromantischer Klangkosmos alles mit, was von einer großen Oper erwartet werden darf. Die anspruchsvollen Solopartien, Duette und Ensembleszenen, aber auch die vielgestaltigen Choreinsätze und der schillernde Orchesterpart liefern alle Ingredienzen für ein mitreißendes, absolut repertoiretaugliches Bühnenstück.

Qualitativ genügt allerdings schon diese Aufführung hohen Ansprüchen. Das gilt vor allem für den warmen, aber durchsetzungsstarken Sopran von Raffaela Lintl (Grete Minde), den frischen Tenor von Zoltán Nyári (Valtin) und ihre trotz Selbstzweifeln mitleidlosen Gegenspieler, die von Kristi Anna Isene (Trud) und Marko Pantelić (Gerdt) verkörpert werden. Ein Sonderlob gebührt dem oft und sehr unterschiedlich beanspruchten Opernchor (Einstudierung: Martin Wagner) und der mit Leidenschaft und Präzision agierenden Magdeburgischen Philharmonie unter Anna Skryleva.

Eugen Engel: Grete Minde, 2 CDs, Orfeo