Die Geburtsstunde der polnischen Oper

Im Europa des 19. Jahrhunderts wird Kultur zur Quelle der Identifikation und des Aufbegehrens gegen Tyrannei. Vor dieser Kulisse entsteht ein musikalisches Werk, das 1858 seine Uraufführung in Warschau feiert: „Halka“. Eine Oper von Stanisław Moniuszko, die noch heute zum Standardrepertoire in Polen zählt, aber jenseits der Landesgrenzen eher unbekannt ist.

Russland, Preußen und Österreich sorgen durch eine sukzessive Gebietsaufteilung dafür, dass es zwischen 1795 und 1918 keinen polnischen Staat gibt. Durch den wachsenden Nationalismus wird Europa im 19. Jahrhundert zum Spielball der Mächtigen.

Mittendrin eine junge Bauerstochter, verliebt in einen Adeligen. Dieser schwört ihr die Treue, verlässt sie dann trotz Schwangerschaft. Nicht, weil er keine Zuneigung für sie empfindet, sondern weil sie als Frau an seiner Seite nicht standesgemäß wäre. „Halka“ lautet der Name der jungen Bäuerin, deren Geschichte – man ahnt es schon – kein gutes Ende findet.

In seiner gleichnamigen Oper stilisiert Stanisław Moniuszko das Schicksal der jungen Frau zum Symbol einer ganzen Nation, die sich gegen Tyrannei und Fremdbestimmung wehrt. Die Musikgeschichte sieht in der von Volksliedern und Tänzen inspirierten „Halka“ die Geburtsstunde der polnischen Nationaloper. Wer sich das Werk anhört, wird feststellen: Völlig zu Recht.

Die Oper erzeugt – durch das sozialkritische Libretto von Włodzimierz Wolski und Moniuszkos mitreißende Musik – einen enormen Spannungsbogen und besticht durch eine unglaubliche Dichte. Die oftmals melancholischen, dann wieder treibenden Melodien berühren und laden auf eine ganz besondere musikalische Reise ein. In knapp zwei Stunden Spieldauer erleben die Zuhörer ein Stück polnischer Geschichte, leiden mit der jungen Bäuerin und werden zu Zeugen einer musikalischen Manifestation von politischer Sprengkraft.

Polens Antwort auf Verdi

Die Solisten der neuen Live-Einspielung aus dem Opernhaus Poznań arbeiten die Charaktere detailliert heraus und treffen buchstäblich genau den passenden Ton. Sie hauchen den Figuren Lebendigkeit und Individualität ein – imposant und empathisch ansprechend. Allen voran brillieren die Sopranistin Magdalena Molendowska (Halka), der Tenor Dominik Sutowicz (Jontek) und der Bassbariton Łukasz Goliński (Janusz) durch ihre authentische Interpretation.

Es ist sicher kein Zufall, dass mit diesen dreien gefragte Verdi-Sänger verpflichtet wurden. Schließlich lassen Moniuszkos Arien – melodiös und eingängig wie sie daherkommen – Opernfreunde unwillkürlich an seinen italienischen Zeitgenossen denken. Für die leidenschaftliche instrumentale Begleitung sorgt Gabriel Chmura, der im Oktober 2020 verstorbene Dirigent und künstlerische Leiter der Oper Poznań. Er spornt das Orchester des Hauses zu Höchstleistungen an.

Mit wachsender Bekanntheit der Oper ist es durchaus vorstellbar, dass sowohl die kompositorische Leistung des Komponisten als auch das Libretto neuen Zielgruppen erschlossen werden. Zu gönnen wäre es der Oper. Denn dieses Stück Musikgeschichte sollte man als weder als Opernliebhaber noch als Mensch mit Interesse an historischen Begebenheiten verpassen.

Stanisław Moniuszko: Halka, Naxos, 2 CDs