Die Kleider des Despoten und die nackte Wahrheit

Aufgelesen (17): Ludwig Fuldas Märchenstück „Der Talisman“

König Astolf hat ein autoritäres Regime geschaffen, das Höflinge und Untertanen zu bedingungslosem Gehorsam zwingt. Doch der Despot will mehr: Mit Hilfe eines Talismans soll auch das Seelenleben seines Volkes analysiert, bewertet und – wenn nötig – sanktioniert werden.

Der geheimnisvolle Omar entwirft im Auftrag des Königs ein Zauberkleid, das Wahrheit und Lüge, Schein und Sein voneinander trennen soll. Wer es nicht sehen kann, beweist damit wahlweise seine Dummheit oder seine Schlechtigkeit. Alle anderen haben die höchste Stufe des Untertanen-Daseins erreicht und können Astolfs immer rücksichtsloserer Herrschaft als solides Fundament dienen.

Ludwig Fulda schrieb eines seiner bemerkenswertesten Theaterstücke „mit teilweiser Benutzung eines alten Fabelstoffes“ und ging doch weit über seine Vorlage hinaus. Astolf ist nicht der wirklichkeitsfremde Kaiser, der in Andersens Märchen von zwei Spitzbuben hinters Licht geführt wird, sondern ein skrupelloser Tyrann, der sich als gottgleiches Wesen inszeniert und daraus Herrschaftsansprüche über Leben und Tod ableitet.

König Astolf:
Das Unrecht wurde Recht, indem ich’s that!
Was gelten Menschen, wenn man sie vergleicht
Mit meinen übermenschlichen Entwürfen?

Auch wenn die Höflinge durchaus eigene Interessen verfolgen, haben sie den Despoten in seinen absurden Fehleinschätzungen der Wirklichkeit immer wieder bestätigt. Vernunftgeleitetes Handeln ist in dieser Führungsriege unmöglich geworden und als der König nackt vor seinen Granden herumspaziert, kennt ihre Begeisterung für das prachtvolle Gewand keine Grenzen mehr.

Blinder Gehorsam

Derweil dreht das „Volk“, das aus Angst oder Gleichgültigkeit eine schweigende, widerstandslose Mehrheit bildet, die Spirale der Selbstaufgabe noch ein Stück weiter. Astolfs Bürger streiten allen Ernstes darüber, ob das neue Kleid nun rot, blau oder grün ist. Doch in dem Moment, da Unterdrückung, Feigheit und Selbstbetrug die Gesellschaft vollständig erfasst haben, findet die Tochter eines Korbflechters den Mut zur Wahrheit.

Rita:
Herr, kann dich das im Ernst erbosen?
Du bleibst der König – auch in Unterhosen.
An dich zu glauben ist Gesetz und Pflicht:
Ich glaube, daß du Kleider hast in Massen,
Ich glaub‘ sogar, du kannst mich köpfen lassen;
Nur daß du heut was anhast, glaub‘ ich nicht.

Dass fehlender Glaube in solchen Zeiten Hochverrat ist, muss Rita klar sein. Schließlich hat der König, Widerspruch vorausahnend, bereits eine neue Volte geschlagen und aus seinen nicht vorhandenen Kleidern eine „Fake News“ mit obligater Drohkulisse gebastelt.

König Astolf:
Noch einmal denn: Ich trag‘ ein prächtig Kleid,
Und bleibt’s euch unsichtbar in Ewigkeit,
Ich, euer Herr, befehl´ euch, dran zu glauben!
Wer Zweifel hegt und wider mein Gebot
Sie laut verkündet, büßt es mit dem Tod!

Der alte Fabelstoff wird so zur politischen Parabel – von durchaus verblüffender Aktualität. Dass hier noch Rettung möglich ist, scheint ausgeschlossen. Doch Märchenstücke können Katastrophen abwenden und, wenn vorhanden, noch abgrundtiefere Bösewichte bestrafen, um dem vielleicht nur verirrten Sünder einen Ausweg zu ermöglichen. Solche Operationen hinterlassen allerdings in der Regel einen schalen Nachgeschmack …

Für die Freiheit des Wortes

Dass Kaiser Wilhelm II. von diesem 1893 uraufgeführten Schauspiel nicht angetan war und Ludwig Fulda den renommierten Schiller-Preises vorenthielt, bewies schon zur Entstehungszeit des Werkes, dass der fiktive König ein hohes Identifikationspotenzial für reale Autokraten bot.
Doch auch ohne kaiserliche Gunst eroberte „Der Talisman“ die Bühnen im In- und Ausland und begegnete dabei vielen anderen Fulda-Stücken, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert astronomische Aufführungszahlen verzeichneten. Allein für das Lustspiel „Jugendfreunde“ (1898) und die später mit Greta Garbo verfilmte Komödie „Die Zwillingsschwester“ (1901) wurden mehr als 1.400 Inszenierungen gezählt.

Griffige Plots, eingängige Dialoge und Verse und augenzwinkernde Offerten an den breiteren Publikumsgeschmack waren Markenzeichen des Autors, der sich allerdings auch kulturell und gesellschaftlich engagierte – u.a. als Verfechter des freien Wortes gegen nationale und internationale Zensurbehörden, als Befürworter eines umfangreichen Urheberrechtes oder als Präsident des deutschen PEN-Clubs. Überdies machte er sich als sprachgewandter Übersetzer, vor allem von Molière, Edmond Rostand, Lope de Vega oder Henrik Ibsen, einen Namen.

Nachdem seine Theaterstücke noch 1932 mehrere hundert Aufführungen erlebt hatten, geriet er ins Visier der nationalsozialistischen Rassenpolitik. Fuldas Werke wurden verboten und er selbst mit einem Publikationsverbot belegt. Seine Stücke verschwanden von den Spielplänen und aus den Buchhandlungen, er selbst war immer schärferen Repressionen ausgesetzt. Im März 1939 nahm sich der verzweifelte Ludwig Fulda das Leben.