Die Last der Bilder

Anna Langfus (1920-66) war eine der ersten Überlebenden der Schoa, die sich mit dem Völkermord an den europäischen Juden und der damit verbundenen Erinnerung an traumatische Erlebnisse literarisch auseinandersetzte. Ihr Roman „Les bagages de sable“, 1962 mit dem „Prix Goncourt“ ausgezeichnet, erscheint nun in der Reihe „Die Andere Bibliothek“ – neu und herausragend gut übersetzt von Patricia Klobusiczky.

Schon die erste Wegstrecke scheint unüberwindbar. Zu Beginn des Romans muss die Frau, die später Maria genannt werden will, neunzehn Stufen hinter sich lassen, um die erste Etage ihres Hauses zu erreichen. Doch sie wohnt in der sechsten. Eine langer, quälender Weg und als sie ihr Zimmer endlich erreicht, warten dort drei Tote. Marias Eltern und ihr Ehemann Jacques wurden während des Krieges ermordet, aber für Maria sind sie lebendiger als Nachbarn, Passanten, ja selbst als Familienmitglieder, die dem Holocaust entkommen sind. Das Leid der Vergangenheit, das in beklemmenden Bildern von Krieg, Gewalt und Tod immer wieder aufscheint, stiftet die einzige Verbindung, mit der Maria etwas anfangen kann – aus ihm erwächst „das einzige Leben, dem ich mich wirklich zugehörig fühle.“

Zu den Menschen, die sich „eine friedliche Alltagswelt basteln“, die wissen, wo es langgeht und den Weg zum Ziel kennen, findet Maria keinen Zugang. Dabei ist sie bemüht, wenigstens das äußere Leben wieder in den Griff zu bekommen, sich und anderen den Eindruck von Aktivität und Teilhabe zu vermitteln. Maria fährt mit ihrem betagten Verehrer ans Meer, lässt sich vom Übermut der Dorfjugend anstecken, trifft einen geheimnisvollen Fremden – doch das Gepäck aus Sand, das sie hinter sich herschleift, wiegt am Ende schwerer.

Nichts ist trügerischer als die Gleichgültigkeit von Dingen, als die Harmlosigkeit einer Landschaft, und in der Luft nehmen die Gespenster schnell Gestalt an.

Die Schuldgefühle, die aus dem schuldlosen Umstand des Überlebens erwachsen, lassen Maria nicht los. Ihr bleibt nur die vage Hoffnung, irgendwann den Kontakt zur fremd gewordenen Außenwelt zu verlieren und im umfassendsten Sinn des Wortes unberührbar zu werden.

Vielleicht werde ich mich eines Tages nicht mehr davonstehlen müssen, vielleicht werde ich eines Tages so sein wie ein glatter, kühler Kieselstein, am Strand vergessen, wenn ich endlich die perfekte Gestalt gefunden habe, um dem Lauf der Zeit zu entkommen.

Es bedurfte 15 langer Jahre und eines Wechsels in die Sprache der französischen Wahlheimat, ehe die 1920 im polnischen Lublin geborene Anna-Regina Szternfinkiel das eigene Erleben künstlerisch verarbeiten und so einem kollektiven Erinnerungsraum einfügen konnte. Im März 1941 war die junge Frau, die zuvor in Belgien studiert hatte, mit ihrem Ehemann Jakub Rajs in das Ghetto von Lublin deportiert worden. In den folgenden Jahren wurden ihre Eltern, der Ehemann und weitere Familienangehörige ermordet. Anna, die sich zwischenzeitlich dem Widerstand angeschlossen hatte, überlebte Gefangenschaft und Folter und flüchtete 1946 – nun vor polnischen Antisemiten – nach Paris. Hier heiratete sie den Jugendfreund Aron Langfus und  begann, sich mit der Vernichtung des europäischen Judentums und ihren eigenen traumatischen Erlebnissen auseinanderzusetzen. Bis zu ihrem frühen Tod rang sie darum, das „Unfassbare zu fassen“ und ihm eine erzähl- und nacherlebbare Gestaltung zu geben. Drei Romane entstanden in dem Bewusstsein, dass die Überlebenden den ermordeten Opfern des Nationalsozialismus nur noch den Dienst erweisen können, die Erinnerung an ihr Leben und Leiden lebendig zu halten.

„Les bagages de sable“ war der mittlere und erfolgreichste Teil dieser Prosareihe. 1962 wurde das in eindringlichem Präsenz erzählte, von quälenden Bildern und Visionen durchzogene Werk mit dem renommierten „Prix Goncourt“ ausgezeichnet und rund 150.000 Mal verkauft. Zwei Jahre später erschien die deutsche Übersetzung von Yvonne Meier-Haas. Für „Die Andere Bibliothek“ hat sich nun die mit französischen Autorinnen der Moderne eng vertraute Patricia Klobusiczky an eine Neufassung gemacht, die dem Original in Sachen Wortwahl, Satzbau und Bildsprache so nah wie möglich kommen will. Dabei entsteht freilich kein historischer Roman, sondern ein Werk, das auf bedrückende Weise deutlich macht, wie körperliche und seelische Verletzungen das Leben ebenso dramatisch wie dauerhaft verändern. Wer Marias spontanen Einfällen, komplexen Gedankengängen, euphorischen Ausbrüchen, Hasstiraden und verzweifelten Zusammenbrüchen folgt, bekommt eine Ahnung davon, was dieser Frau zugestoßen sein muss, gewinnt aber – über den Einzelfall hinaus – auch Einblicke in den Seelenhaushalt einer Zeit, von der nicht mehr viele Augenzeugen berichten können.

Eine Neuveröffentlichung lässt sich also durch die politischen und gesellschaftlichen Implikationen begründen, „Gepäck aus Sand“ überzeugt aber auch und vor allem durch die eindringliche sprachliche Gestaltung und den soghaften Erzählfluss. Die Aufnahme in „Die Andere Bibliothek“ sorgt folgerichtig dafür, dass die rein künstlerischen Aspekte nicht in Vergessenheit geraten. Die hochwertige Ausstattung, die vom Designbüro Lübbeke Naumann Thoben in Köln realisiert wurde, basiert auf einem um 90° gedrehten ➤ Bild der südkoreanischen Künstlerin Yunhee Min aus dem Jahr 2013, dessen Titel in eigenartigem Kontrast zum Text des Romans steht. Er lautet „Into the Sun #6“.

Anna Langfus: Gepäck aus Sand (Die Andere Bibliothek, Band 481), Aufbau Verlage, 48 €