An Adolph Bernhard Marx (1795-1866) schieden sich schon zu Lebzeiten die Geister. Als Musikwissenschaftler gehörte er zu den Begründern und angesehensten Vertretern seiner Zunft. Als Schöpfer eigener Werke wurde er kaum wahrgenommen. cpo, der Raritätensucher aus Georgsmarienhütte, will das jetzt ändern.
Selbst dem opus magnum des studierten Juristen, der herausragende Positionen im Berliner Musikleben bekleidete, war kein anhaltender Erfolg beschieden. Und wenn sein 1841 in Breslau uraufgeführtes Oratorium „Mose“ irgendwo Aufmerksamkeit erregte, war das Echo geteilt. Sein früherer Freund und späterer Kritiker Felix Mendelssohn-Bartholdy hielt ähnlich wenig davon wie Robert Schumann, der die Arbeit des Kollegen in Grund und Boden rezensierte. Zum Komponisten fehle Marx „fast alles“, sodass sich im gesamten Werk „nicht einmal nur ein in der Form geglücktes, wirklich abgerundetes Musikstück“ finde. Ganz anders sah es der Schweizer Joachim Raff, der „Mose“ als „poetisch-musikalische Darstellung eines weltgeschichtlichen Vorganges“ würdigte.
Unebenheiten und Widersprüche sind freilich im Werk selbst angelegt. Schon die Bezeichnung „Oratorium“ führt in die Irre, denn Marx´ zupackender, musikdramatischer Ansatz ist im Konzertsaal oder sogar auf der Opernbühne sicher besser aufgehoben als in gottesdienstlichen Zusammenhängen.
Beim ersten Hören fallen die vermeintlichen Niveauunterscheide innerhalb des Werkes noch mehr ins Gewicht. Bewegt sich doch manch ein Sologesang mühsam von Note zu Note, während die Chorpartien eine unwiderstehliche Sogwirkung entfalten – allen voran das Finale des ersten Teils, in dem Marx die Stimme Gottes in einem doppelchörigen, von allen Stimmlagen getragenen Satz erklingen lässt. Bei der zweiten und dritten Begegnung mit „Mose“ offenbart dieses Wechselspiel allerdings durchaus Bewusstsein für eine besondere Ökonomie der Mittel, die den eigenwilligen Text des Komponisten mit seinen mal prägnanten, mal ausufernden Bildern und seinen sprunghaften Szenenwechseln adäquat in Töne setzt.
„Mose“ schien bereits endgültig vergessen, als er 2009 von der Berliner Sing-Akademie wiederentdeckt wurde. Bis zur aktuellen Gesamtaufnahme, die im November 2019 im Leipziger Gewandhaus mitgeschnitten wurde, verging ein weiteres Jahrzehnt. Die CD überzeugt durch ein engagiertes Solistenensemble und eine feinsinnige Orchesterbegleitung durch die camerata lipsiensis unter Gregor Meyer. Der eigentliche Star der Aufnahme ist freilich der GewandhausChor, der seine unterschiedlichen Rollen und die herausfordernden musikalischen Aufgaben mit Bravour meistert.
Dass „Mose“ seinem historischen Gegenstück, Mendelssohns Oratorium „Paulus“, jemals den Rang abläuft, steht nicht zu erwarten. Eine größere Aufführungsdichte wäre dem außergewöhnlichen Werk jedoch zu wünschen. Zumal „Breitkopf & Härtel“, jener Verlag der vor knapp 180 Jahren schon die Erstausgabe des „Mose“ betreute, 2019 eine komplette Neuedition vorgelegt hat.
Adolph Bernhard Marx, 2 CDs, cpo