Der poetische Titel „Museum der Einsamkeit“ erweist sich bei näherer Betrachtung als Versprecher und auch sonst ist in Ralf Rothmanns neuem Buch wenig so wie es scheint. Neun Erzählungen kreisen um das, was kaum zu beschreiben ist – und fangen es doch immer wieder ein.
„Eine Biografie aus Leerzeilen. Wäre nicht alles andere erfunden?“ Diese beunruhigende, weil nicht sofort von der Hand zu weisende Frage stellte Rothman in seiner 2023 erschienenen Notizensammlung „Theorie des Regens“. Nun ist er zu Lebensgeschichten zurückgekehrt, die ihr Erfundensein gar nicht leugnen – auch wenn sie sich so nah an der Realität bewegen wie die Erzählung „Psalm und Asche“. Deren Ich-Erzähler gibt sich als Albert Konrad Gemmeker zu erkennen, der von 1942 bis 45 Kommandant des Durchgangslagers Westerbork war und rund 80.000 Menschen nach Auschwitz deportieren ließ. Eitel, unbelehrbar und randvoll mit Selbstmitleid lässt er seine Erinnerungen Revue passieren, während die in Westerbork inhaftierte Etty Hillesum auf dem Weg in das Vernichtungslager noch Kraft findet, einer Nachbarin Trost zu spenden.
Das Letzte im Innern, die Wahrheit hinter der Wahrheit, kann dir sowieso niemand nehmen. (…) Nirgendwo. Wenn du das verstehst, bist du frei, und das Leben ist wieder wunderbar, auch hier, auch in diesem Moment.
Die „Wahrheit hinter der Wahrheit“ taucht auch als „Raum hinter dem Wortlaut“ (Herr Dingens), „eine andere Wirklichkeit“ (Eine kleine Metall-Unterhaltung) oder „das stille Wissen um einen fernen Klang“ (Schimmel in der Orgel) auf. Rothmanns klar konturierte, stets exakt beschreibende und nie wertende Texte treiben folgerichtig auf Wendepunkte zu, an denen sich Unerwartetes offenbart. Gewohnte Parameter versagen, vorgefasste Meinungen geraten ins Wanken, Selbst- und Fremdeinschätzungen, Lebenseinstellungen und Weltbilder bekommen Risse.
Und dann begegnen die Lesenden einer Dozentin, die permanente Beschäftigung vorgibt, um die innere Leere zu überdecken, ehe sie sich in einer notdürftig aufgehübschten Bausünde an der Ostsee Gedanken über Mütter und Makler macht und dann auch noch Einsamkeit und Eisenzeit verwechselt; sie lernen einen homophoben Schläger mit homosexuellen Neigungen und einen misanthropen Spießbürger kennen, der Keith Jarrett-CDs mitgehen lässt und heimlich Waschbären füttert. Und dann ist da ja noch der Lagerkommandant, der eine tiefere Wahrheit wenigstens flüchtig berührt. Halbwegs ehrlich gesagt, hätte er auch ganz „normale“ Menschen deportiert: „(…) wenn der Befehl aus Berlin oder Den Haag gekommen wäre, ich bin Verwaltungsmann; es ging mir um reibungslose Abläufe.“
Die Unbelehrbaren und Selbstgerechten haben freilich nicht das letzte Wort. Die allermeisten Figuren retten ihre Würde vor den Attacken der Mitmenschen, der Umwelt, des Schicksals – so wie die „Engel auf Krücken“, die sich in der gleichnamigen Erzählung aneinander klammern, um der Einsamkeit zu entkommen. Wohl wissend, dass in diesem Universum nichts von Dauer ist.
Du glaubst ein Leben lang, das Beste passiert noch, und dann drehst du dich um und siehst: Das war´s schon!
Sogar die guten Momente sind immer nur Momente, stimmt´s?
Ralf Rothmann: Museum der Einsamkeit, Suhrkamp, 25 €