Wie wirken bestimmte Ereignisse auf Menschen, die an unterschiedlichen Orten rund um den Globus leben? Wie beeinflussen individuelle Lebensumstände unsere Wahrnehmung auf Sinnfragen und Krisen? Um sich dieser Fragestellung zu nähern, nahmen sechs europäische und amerikanische Autor:innen an einem literarischen Experiment teil. Zwischen 2019 und 2022 schrieben sie – teils poetisch, teils nicht-fiktional – parallel Tagebuch, um einen besonderen Perspektivwechsel zu ermöglichen.
Kathrin Schadt (Barcelona), Gundega Repše (Riga), David Eisermann (Bonn), James Hopkins (Kathmandu), David Oates (Portland/Oregon) und Johanna Hansen (Düsseldorf) haben sich auf ein besonderes Experiment eingelassen: Sie geben Einblicke in ihren Alltag, in ihre Arbeit, in Begegnungen und somit auch in ihre Gefühlswelt vor dem Hintergrund des jeweils erlebten Tages, den sie in ihren Tagebucheinträgen schriftlich festgehalten haben.
Die skizzierten Beiträge, die so entstanden sind, wurden in der Wortschau und der Online-Plattform ➤ „Faust Kultur“ veröffentlicht. Um die Inhalte des Tagesbuchprojekts einem internationalen Publikum zugänglich zu machen, sind Auszüge aus den Beiträgen zusätzlich in englischer Sprache auf der Literaturplattform ➤ Eratio erschienen. Der Herausgeber ist Gregory Vincent St. Thomasino.
Drei Jahre, sechs Autor:innen, verschiedenste Themen wie Glück, Kälte, Fernweh, Abschied und Sehnsucht, vorgegebene Tage für die Anfertigung der Tagebuchnotizen, unterschiedlichste Perspektiven auf dieselben Ereignisse, Einblicke in Emotionen, Erfahrungswerte und Wahrnehmung auf Dinge, die jeden Menschen anrühren. Das alles festgehalten in Fotos, Gedankenfetzen, lyrischen Intermezzi, Alltagsbeobachtungen in ungewohnter Detailtreue. Aufräumen mit Vergangenem – oder doch nicht? – und Annehmen der oftmals ungewissen Gegenwart sowie der daraus resultierenden Zukunft, Erinnerungen an unbeschwerte und belastende Tage, Ängste und Hoffnungen, Schaffung eines neuen Bewusstseins für sich selbst, die eigenen Werte und die spezifischen Lebensumstände. Scheinbare Banalitäten, die angesichts existenzieller Erfahrungen zu etwas Großem von unschätzbarer Bedeutung heranwachsen.
Ohne Frage setzt das Tagebuchprojekt SEITEN WECHSEL auf einen außergewöhnlichen Zugang zu scheinbar Alltäglichem und Dingen, die uns als Leser:innen auf einer ganz persönlichen Ebene ansprechen. Denn jeder von uns hat sich zwischen 2019 und 2022 mit unzähligen Erfahrungen das erste Mal im Leben auseinandersetzen müssen. Was uns alle vereint, sind eben diese Erlebnisse rund um Covid-19, Ukraine-Krieg und Ereignisse von ähnlich großen Dimensionen. Was sich unterscheidet, ist der Umgang mit diesen Geschehnissen. Gerade deshalb bietet das literarische Experiment des Wortschau-Verlags solch enormes Potenzial: Es ermöglicht einen überraschend erfrischenden Blick auf die vergangenen drei Jahre.
So bringt es beispielsweise Kathrin Schadt in ihrem Beitrag für den 1. Januar 2022, in dem es um Verlust und Veränderung geht, gut auf den Punkt, indem sie die Menschen mit Raupen vergleicht, die sich angesichts von Verlust und Veränderung verpuppen, um letztlich neue, ungeahnte Kräfte zu entfalten. Ihre Botschaft: Selbst aus den herausforderndsten Situationen können wir – so schmerzlich es manchmal auch sein mag – gestärkt hervorgehen.
Experiment mit Tiefgang
Als Leser:innen können wir mit den Autor:innen mitfiebern, mitleiden und uns mitfreuen, werden zum Nachdenken angeregt und erhalten so manchen frischen Impuls. Eventuell mag der Inhalt dieses besonderen Sammelbandes dabei helfen, Ereignisse und Erlebnisse retrospektiv neu zu bewerten oder zu verarbeiten und/oder mit geklärtem Blick in die Zukunft zu schauen.
Um bei dem Beispiel von Stefanie Schadts Beitrag zu bleiben: Die Autorin hinterfragt das Weltbild, das wir vor dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie hatten und zeigt auf, dass ein Abschied auch stets neue Wege ermöglicht:
Das Ächzen unserer Welt ist in den letzten Monaten hörbarer geworden. Ihr Versuch, sich neu zu erfinden, sich wieder zu finden. Während wir eine alte Welt verabschieden (die vielleicht nie wirklich in dieser Form existiert hat?), sie betrauern und all unsere „jemands“. Während es heißt: diese Welt wird nie mehr sein, was sie davor war.
Wie auch immer der Inhalt von SEITEN WECHSEL aufgefasst werden mag – die Lektüre lohnt sich. Denn manchmal ist es einfach an der Zeit, sich auf Neues einzulassen.
„SEITEN WECHSEL, Tagebuchnotizen“, hrsg. von Johanna Hansen und Wolfgang Allinger, Wortschau Verlag 2022, 16 Euro