Auch ohne Pandemie wäre der 300. Todestag von Antonio Giannettini im Juli 2021 relativ unbemerkt verstrichen. Eine großartige Aufnahme seines Oratoriums „L´ uomo in bivio“ (Der Mensch am Scheideweg) erinnert nun aber daran, dass es in der italienischen Musikgeschichte um 1700 noch viel zu entdecken gibt.
Schwarze Augen und verführerische Lippen, viel mehr muss der Teufel dem Jüngling nicht versprechen, um ihn vom rechten Weg abzubringen. Doch sein himmlischer Gegenspieler gibt nicht auf. Der Engel bringt den Verführten an ein offenes Grab, in dem die tote und bereits verwesende Leiche seiner Geliebten liegt. Nach dem schockierenden Blick auf die Vergänglichkeit irdischer Freuden setzt der Mensch schließlich doch auf das himmlische Heilsversprechen.
Unter der scheinbar simplen Handlung verbergen sich allerlei theologische Fallstricke und schier unendliche Möglichkeiten, die Skala menschlicher Empfindungen herauf und herunter zu musizieren. Antonio Giannettini, der als Komponist, Sänger und Organist in Venedig tätig war, ehe er 1686 Musikdirektor des Herzogs Francesco II. d´Este in Modena wurde, entfesselt die ganze Bandbreite von tiefster Verzweiflung bis zu hingebungsvoller Leidenschaft – und das mit einer erstaunlichen Ökonomie der Mittel. Es braucht nämlich nicht mehr als zehn Musiker, um das 1687 entstandene, knapp 90minütige Oratorium mit aller erdenklichen Klangpracht in Szene zu setzen.
Marco Mencoboni vertritt diese These nicht nur im aufschlussreichen Programmheft, sondern liefert auch gleich den Beweis, indem er als Cembalist eine Instrumentalgruppe von „Cantar Lontano“ mit zwei Violinen, Cello, Kontrabass und Theorbe leitet.
Dazu gesellt sich ein eindrucksvolles, auch als Chor agierendes Solistenensemble mit der sympathisch zaudernden Mezzosopranistin Marta Fumagalli (Junger Mann), dem nicht ganz unparteiischen Tenor Massimo Altieri (Erzähler), dem finsteren Bass Salvo Vitale (Teufel) und dem fast überirdisch schönen Sopran Francesca Boncompagni (Engel).
Wenn es nach Mencoboni geht, ist die Einspielung von „L uomo in bivio“ nur der Auftakt zur gezielten Wiederentdeckung eines Komponisten, der 1649 in Fano geboren wurde und 1721 während eines Besuchs bei seiner Tochter in München starb. Fast alle Werke Antonio Giannettinis, darunter auch großformatige Opern und Oratorien, schlummern seit Jahrhunderten in den Archiven.
Antonio Giannettini: L´ uomo in bivio, 2 CDs, Glossa