Ab Mitte April soll in Deutschland keine Atomenergie mehr produziert werden. Damit endet auch die Geschichte des Atomkraftwerks Emsland, das 1988 ans Netz ging und immer wieder Anlass zu kontroversen Diskussionen gab. Nach dem ersten Teil, der die Planungen und den Bau der Anlagen schilderte, geht es diesmal um die Entstehung und Entwicklung der Antiatomkraftbewegung.
Als 1968 das Kernkraftwerk Lingen ans Netz ging, herrschte zwar eine gewisse Verunsicherung in der Bevölkerung, von einem organisierten Widerstand war man jedoch noch weit entfernt. Das änderte sich auch angesichts diverser Störfälle nicht. Auch als 1975 die Ansiedlungspläne der Brennelementefabrik bekannt wurden, blieb es relativ ruhig. Selbst die Lingener „Bürgerinitiative gegen Umweltvergiftung“ hatte keine Einwände, sie konzentrierte sich auf die Kritik am Chemiewerk Bärlocher.
Erst als Ende 1977 die Pläne zum Bau weiterer Kernkraftwerke bekannt wurden und das Kernkraftwerk Lingen 1978 bundesweit Schlagzeilen wegen angeblich erhöhter Leukämieerkrankungen machte, wandelte sich die Stimmung. Das umstrittene Bremer Institut für biologische Sicherheit hatte eine Studie veröffentlicht, nach der vor allem bei Kindern die Zahl der Leukämieerkrankungen in der Umgebung des Kernkraftwerks Lingen signifikant erhöht schien. Von einer wissenschaftlichen Belastbarkeit war die Studie weit entfernt, doch tat sich das niedersächsische Sozialministerium zunächst schwer, die Studie zu widerlegen. Erst im April 1980 konnte es eine Gegenstudie vorlegen, die feststellte, dass Leukämie in Lingen keineswegs häufiger auftrete.
In der Region begannen sich nun Atomkraftgegner erstmals zu organisieren. Die verschiedenen Initiativen schlossen sich schließlich zu den „Bürgerinitiativen Emsland gegen Atomanlagen“ (BEGA) zusammen. Ende 1979 sammelten sie über 18.000 Einsprüche gegen das neue Kernkraftwerk. Am 14. Juni 1980 fand in Lingen mit 3.000 (laut Polizei) bis 8.000 (laut Veranstalter) Teilnehmern die erste größere Demonstration gegen den Bau des Kernkraftwerks Emsland statt. Die Gewerkschaft ÖTV sammelte derweil rund 10.000 Unterschriften für den Bau. Die „Welt am Sonntag“ titelte daraufhin: „Eine Stadt kämpft für Atomkraft“.
Eine zweite Demo mit 5.000 (Polizei) bis 10.000 (Veranstalter) Teilnehmern fand am 25. Oktober 1980 statt. Da sie sich nicht nur gegen Kernenergie, sondern auch gegen Atomwaffen richtete, nahmen auch zahlreiche Friedensaktivisten teil. Ein von den Demonstranten auf dem Gelände des geplanten Kernkraftwerks errichtetes „Freundschaftshaus“ wurde von der Polizei wieder abgerissen. Unterdessen hatte man offenbar auch im Darmer Ortsrat bemerkt, dass die Kernenergie ein Imageproblem hatte. Bereits im Mai 1979 änderte er den Straßennamen „Zum Reaktorblick“ einstimmig in „Zum Kanalufer“.
Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986 führte dazu, dass auch im Emsland erhöhte Strahlungswerte gemessen wurden. Der Landkreis richtete zwei Bürgertelefone ein und im Kernkraftwerk wurde die Strahlenbelastung von Gemüseproben gemessen. Das Vertrauen in die Kernenergie sank noch weiter herab. Der nun gegründete Verein „Frauen gegen Atomkraft“ führte Unterschriftenaktionen durch, organisierte Demos und beriet bei Ernährungsfragen. Im Oktober 1986 gelang den Grünen mit zwei Sitzen erstmals der Sprung ins Stadtparlament. Und im Februar 1987 entstand der „Elternverein Restrisiko Emsland“, der zwei Jahre später bereits 240 Mitglieder hatte und 1990 mit dem Umweltpreis der Stadt ausgezeichnet wurde. Er führte Strahlungsmessungen durch, überprüfte Lebensmittel und informierte über die Trinkwasserbelastung.
Für Lingen sollte die Tschernobyl-Katastrophe noch ganz andere Folgen haben. Infolge radioaktiven Regens insbesondere in Bayern hatte die Bundesrepublik rund 5000 Tonnen verstrahltes Molkepulver, das im stillgelegten Kernkraftwerk Lingen dekontaminiert werden sollte. Ende September 1987 forderten etwa 70 Demonstranten „Zur Hölle mit der Molke!“ Man befürchtete, dass Lingen langfristig zu einer Art Entstrahlungszentrum werden könnte. Eine inzwischen gegründete „Bürgergemeinschaft gegen Strahlenmolke“ rief am 14. November zu einer Demonstration und Großkundgebung auf den Lingener Marktplatz. Es kamen 3.000 (Polizei) bis 6.000 (Veranstalter) Menschen. Zugleich wurde ein Bürgerantrag initiiert, unterzeichnet von über 11.000 Wahlberechtigten, der allerdings am 9. Dezember im Stadtrat nach fast fünfstündiger Debatte abgelehnt wurde. Die Dekontamination begann, und im Dezember 1990 erreichten die letzten Molkewaggons Lingen.
Ein Nachspiel hatte die Dekontaminierung der Molke offenbar ausgerechnet für die Grünen, die das Projekt ebenso wie SPD und UWG abgelehnt hatten. Ohnehin erst seit 1986 im Stadtrat vertreten, verpassten sie 1991 den Einzug zu Gunsten der deutlich entschiedener auftretenden „Kommunalen Initiative erzürnter Bürger in trostlosen Zeiten“ (K.I.E.B.I.T.Z.), die sich einen Ratssitz sichern konnte. Mit dem „Ratsboten“ gab die Initiative auch eine eigene Zeitschrift heraus. Die Initiative blieb Episode, und 1996 gelang den Grünen der Wiedereinzug. Größere und kleinere Demonstrationen gegen Atomkraft gab es in Lingen auch danach immer wieder.
Doch trotz all dieser Demos, die immer wieder auch einen überregionalen Einzugsbereich hatten, blieben die Atomkraftgegner in Lingen eine gesellschaftliche Minderheit. 1981 ergab eine Bürgerbefragung, dass 55% für das Kernkraftwerk und nur 35% dagegen waren. Lediglich bei den Jugendlichen waren die Gegner in der Mehrheit. Auch 1985 attestierte eine Studie der Lingener Bevölkerung ein nur schwach ausgeprägtes Protestpotenzial. Die Gründe dafür sah sie unter anderem in den nach wie vor festen traditionellen und konfessionellen Strukturen, in einem angesichts der frühen Errichtung des Kernkraftwerks Lingen eingetretenen Gewöhnungseffekt sowie in der historischen Armutserfahrung im Emsland, die die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu einem schwer zu schlagenden Argument werden lasse.