Ein Fotoalbum als Vermächtnis

Antisemitismus ist ein komplexes Thema. Da verwundert es kaum, dass sich gerade im Bereich der Kinder- und Jugendbildung Berührungsängste bei pädagogischen Fachkräften bilden. Erforderlich ist das passende Material, das eine umfassende und altersgerechte Aufklärungs- und Präventionsarbeit ermöglicht. Mit der Bilderbuch-Neuerscheinung „Selma und Anton. Die Geschichte einer langen Freundschaft“ wagt der Ariella Verlag abermals diesen wichtigen Schritt in die Bildungslandschaft – und stellt unter Beweis, dass eine behutsame Heranführung selbst für die Jüngsten funktioniert.

Die hochbetagte Selma feiert ihren Geburtstag. Zu den Gästen zählen nicht nur Anton, ihr Freund aus Kindertagen, sondern auch ihre Urenkelin Miri und Antons Urenkel Tom. Beim gemeinsamen Blättern in einem Fotoalbum laden die beiden älteren Herrschaften die Kinder dazu ein, ihrer Geschichte zu lauschen. Es handelt sich um die Geschichte einer besonderen Freundschaft – aber auch die einer Zeit, die geprägt war von Ausgrenzung und Hass.

Die Geschichten der Zeitzeugen lebendig halten

Ohne Frage stellen Zeitzeugen eine der wertvollsten Quellen dar, um historische Fakten weiterzugeben. Erinnerungen, die mit Emotionen gespickt sind, erweisen sich als wahrer Fundus an Erfahrungen und Erkenntnissen, aus denen auch folgende Generationen lernen können. Mittlerweile stehen wir als Gesellschaft aber vor dem Problem, dass die meisten Zeitzeugen verstorben sind. Allerdings können wir den enormen Wissensschatz unter anderem in einem adäquaten literarischen Rahmen lebendig erhalten.

Genau hier setzt auch das Bilderbuch „Selma und Anton. Die Geschichte einer langen Freundschaft“ an. Mit liebevollen Illustrationen und einer Erzählung, die in die Lebensrealität der Jüngsten passt, findet das Kinderbuch erste Anknüpfungspunkte an eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte. Das Buch ist für Kinder ab 4 Jahren ausgelegt und in jeder Hinsicht geeignet. Denn die beiden Köpfe hinter dem Buch – Nina Kölsch-Bunzen und Marion Goedelt – sind nicht nur jeweils „vom Fach“, sondern wissen Informationen hervorragend kindgerecht zu verpacken.

Das Bilderbuch ist zur Wissens- und Wertevermittlung sowie als Gesprächseinstieg gedacht und gemacht. Als Aufhänger der Geschichte dient ein Setting, in dem sich Kinder oftmals sehr wohlfühlen und das die Leser unmittelbar abholt: In der Obhut der liebenden (Ur-)Großeltern, die ihnen spannende Geschichten erzählen, warten sie auf das Eintreffen der Geburtstagsgäste.

Einfühlsame Gespräche, eindrucksvolle Bildwelt

Das zentrale Element der Handlung ist ein Fotoalbum, das Selma für ihre Urenkelin Miri zusammengestellt hat. Allerdings handelt es sich hierbei um mehr als eine Zusammenstellung schöner Erinnerungsstücke: Das Fotoalbum ist Selmas Vermächtnis. Die Fotos selbst dienen im Bilderbuch dazu, die historischen Ereignisse aus der Kindheit von Selma und Anton buchstäblich nachzuzeichnen. Beide galten sie als Außenseiter, denn Selma ist Jüdin und Anton hat eine Behinderung, auf die nicht näher eingegangen wird.

Die Illustrationen sind liebevoll und detailverliebt, ohne zu überladen zu wirken. Eingerahmt wird das Geschehen von den Fragen, die die Kinder an ihre Urgroßeltern haben. Die Älteren gehen behutsam auf die Fragen der Kinder ein. Sie wählen ihre Worte mit Bedacht. Auf diese Weise werden die Inhalte äußerst sensibel transportiert und für die Kinder – sowohl die fiktiven im Buch als auch die realen Leser – nahbar. Viele Aspekte werden so angerissen, ohne zu intensiv zu wirken. Für Kinder im Kita-Alter also optimal: Leicht greifbar können sie die Botschaft, die auf die Verdeutlichung von Ungerechtigkeit und Hass abzielt, verstehen.

Ein schöner Kniff, der die Handlung subtil, aber gekonnt abrundet, ist die letzte Seite des Buches: Die Erzählung endet mit der Darstellung einer ausgelassenen Feiergesellschaft, die offenbar nicht nur den Geburtstag Selmas, sondern auch Freundschaft und kulturelle Diversität feiert.

Eine Ode an die Vielfalt

Das Bilderbuch „Selma und Anton“ vermag es, zwei essenzielle Fragestellungen unserer modernen Gesellschaft auch für Kinder in den Fokus der Wahrnehmung zu rücken: Was haben wir aus der Geschichte gelernt? Und was braucht es, um sich dem neu erstarkenden Antisemitismus entgegenzustellen? Für die erste Berührung mit den Themen Antisemitismus und Ausgrenzung eignet sich dieses Kinderbuch also ideal.

Zu den beiden Macherinnen des Buchs

Nina Kölsch-Bunzen, Professorin an der Hochschule Esslingen für Soziale Arbeit und Kindheitspädagogik, lehrt und forscht zu sozialpädagogischen und religionswissenschaftlichen Themenkomplexen. Einer ihrer Schwerpunkte ist die Demokratiebildung gegen Antisemitismus und Rassismus.
Die Illustratorin Marion Goedelt hat sich unter anderem auf Schulbücher spezialisiert und weiß daher, welche Details entscheidend sein können, um Inhalte auch visuell passend aufzubereiten.

Nina Kölsch-Bunzen: Selma und Anton. Die Geschichte einer langen Freundschaft, Illustrationen Marion Goedelt, Ariella Verlag, 16 €