Aufgelesen (9): Henry Jaegers Roman „Die Festung“.
Seine Helden kamen von ganz unten: Henry Jaeger machte sich zum Anwalt der Menschen, die das Wirtschaftswunder vergessen und die Wohlstandsgesellschaft ausgestoßen hatte. Der Sohn eines Kupferschmieds wusste, von wem er schrieb.
Mitte der 1950er Jahre hatte Henry Jaeger das Vorhaben, Medizin zu studieren endgültig aufgegeben und als Anführer der „Jaeger-Bande“ eine Reihe Aufsehen erregender Raubüberfälle begangen. Er wurde zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt und ausgerechnet hier erwachten Jaegers fast schon vergessene literarischen Ambitionen wieder zum Leben.
Auf Zetteln und Toilettenpapier begann er zu schreiben – der Anstaltspfarrer schmuggelte die Texte nach draußen und ließ sie dem Verleger Kurt Dresch zukommen. So entstand auch Jaegers erster Roman „Die Festung“, der 1962 erschien und zum internationalen Bestseller avancierte.
Das Buch erzählt die Geschichte des Kriegs-Heimkehrers Hugo Starosta, der mit seiner Familie aus Ostpreußen geflohen ist. In einem Auffanglager versucht er, sein Leben wieder zu ordnen. Doch mit Bauernschläue allein ist im aufstrebenden Nachkriegsdeutschland nichts mehr zu gewinnen. Hugos „Transportunternehmen“ trudelt schon bald einem traurigen Ende entgegen und die knallbunten Lebensträume seiner Kinder enden zwischen Erziehungsheim, Saisonarbeit und Straßenstrich.
Rund sechs Jahrzehnte später diskutiert Deutschland noch immer über Parallelgesellschaften und soziale Ausgrenzung. Trotzdem scheiterten bislang alle Versuche, wieder ein großes Publikum für „Die Festung“ zu begeistern. Dabei liefern Jaegers plastische Charaktere und Beschreibungen spannende Antworten auf die Frage, wie die Spaltung einer Gesellschaft entstehen und sich immer weiter verfestigen kann.
„Verdammt zur Sünde“
Für den Autor selbst markierte der Roman eine der vielen Kehrtwenden seines ereignisreichen Lebens. Schon 1964 wurde „Die Festung“ unter dem reißerischen Titel „Verdammt zur Sünde“ mit Hildegard Knef und Martin Held verfilmt.
Inzwischen hatte sich sogar der baden-württembergische Ministerpräsident und spätere Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger für die vorzeitige Entlassung des Inhaftierten eingesetzt. Er „hoffe und wünsche, daß dieser Gnadenerweis dem Menschen und dem Autor Karl-Heinz Jaeger zum Glück gerät“, gab Kiesinger zu Protokoll. Tatsächlich ging es nun steil bergauf.
Der „Festung“ folgten zahlreiche Kurzgeschichten und eine Reihe weiterer erfolgreicher Romane, so etwa „Rebellion der Verlorenen“ (1963), „Die bestrafte Zeit“ (1964) oder „Das Freudenhaus“ (1966). Jaeger kam auf legalem Weg zu Reichtum, zog in die Schweiz und befreundete sich hier unter anderem mit dem Schriftsteller-Kollegen Erich Maria Remarque.
Was mich am meisten motiviert beim Schreiben ist, die Wahrheit hinter der Wahrheit zu finden. Was treibt die Menschen an, und damit ist wohl auch die Frage verbunden, was bewegt die Welt? Ich versuche, Menschen zu ergründen.
Henry Jäger im Schweizer „Ferien-Journal“ (Oktober 1994)
Doch den Mechanismen des Literaturgeschäfts entkam er nicht. Die Kritiker, die einst seinen sozialkritischen Ansatz und den lakonischen Stil gefeiert hatten, tauschten ihre hymnischen Besprechungen immer häufiger gegen das Etikett „Trivialliteratur“. 1995 erschien Jaegers letzter Roman „Schnee“, private Probleme, Alkohol und Spielsucht zehrten den Rest seines Vermögens auf. Am 4. Februar 2000 starb Henry Jaeger völlig verarmt in Ascona.
Vorwiegend antiquarisch
2012 erschien „Die Festung“ in einer schön gestalteten Neuauflage im B3-Verlag. Acht Jahre später gab B3 auch den Frankfurt-Roman „Jakob auf der Leiter“ neu heraus. Alle anderen Werke von Henry Jaeger sind derzeit nur noch antiquarisch erhältlich.