Im dritten Teil der Reihe über Aufstieg und Fall der Hohenzollern aus dem Archiv Historische Bildpostkarten geht es um Heinrich Hoffmann von Fallerslebens „Lied der Deutschen“, das von den Militaristen des späten Kaiserreichs endgültig kontaminiert wurde.
Unter Wilhelm II. ist das „Lied der Deutschen“ mit dem Text Heinrich Hoffmann von Fallerslebens und der Melodie Josef Haydns sozusagen zur zweiten Nationalhymne und Inbegriff deutschnationalen Denkens geworden. „Heil dir im Siegerkranz“ ist zwar nach wie vor die offizielle Kaiserhymne, zeittypischen Bildpostkarten zufolge präsentiert sich jedoch Wilhelm II. ebenso gerne mit dem Deutschlandlied.
Spezielle Illustrationen des Incipits „Deutschland, Deutschland über alles“ künden von der wachsenden Größe des deutschen Kaiserreiches und sollen seit 1914 jedes militärische Vorgehen der Reichsregierung legitimieren. Der Bürger wird aufgefordert, das Wohl des Vaterlandes über alles zu stellen, auch über das eigene Leben.
Davon erzählt die vorliegende Abbildung, auf der Wilhelm II. zwar nicht persönlich auftritt, aber als oberster Kriegsherr symbolisch zugegen ist, wie der seltsam geformte Adler mit der Hohenzollernkrone über den marschierenden Soldaten andeutet. Er ist der ‚oberste‘ Führer eines Bataillons, das im Gleichschritt einer imaginären Front zueilt. Allerdings haben sich kompakte dunkle Wolken am Himmel zusammengezogen, die dem Unternehmen nichts Gutes verheißen. Ein verzweifelt blickender Engel, dem irgendwie die Flügel abhandengekommen sind – vielleicht ist es auch eine Viktoria – demonstriert mit einer riesigen schwarz-weiß-roten Fahne nationale Solidarität.
Deutsche Größe ist mit der Eröffnungszeile „Deutschland, Deutschland über alles“ als Bildtitel und Hymne anwesend und wird offenbar von den Soldaten als unmissverständliche Devise zum Vorstürmen aufgefasst. Alle Männer agieren wie in Trance. Man sieht keine Individuen mehr, jeder ist nur noch Teil der Gruppe. Gemeinsam hasten sie mit erstarrten Gesichtern vorwärts, das Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett in den Händen. Dabei geraten sie unter feindlichen Beschuss. Einen Kameraden hat es bereits getroffen, er bleibt zusammengesunken an der Seite zurück. Trotzdem würde keiner aus dem geschlossenen Block ausscheren, keiner den Gleichschritt unterbrechen, alle gehen unbeirrt voran. Was hält um Gottes willen diese Männer zusammen?
Jedermann im Deutschen Reich konnte spätestens zu Ende des ersten Kriegsjahres erfahren, welche besondere Bedeutung der ersten Strophe des Deutschlandliedes zugeschrieben wurde. Sie ist Teil einer folgenreichen Propagandaverlautbarung, die von der Obersten Heeresleitung am 10. November 1914 herausgegeben wurde. Demnach seien „westlich von Langemarck“ junge Freiwilligen-Regimenter „… unter dem Gesang von ‚Deutschland, Deutschland über Alles‘ gegen die ersten Linien feindlicher Stellungen“ vorgedrungen und hätten sie eingenommen.
Der Vorstoß war erfolglos und die Todesrate außerordentlich hoch. Dennoch brüllt die gesamte nationale Presse hysterisch auf, und auch die Musikwelt ist vollkommen außer sich vor Begeisterung. Die kaiserliche Propaganda feiert den Heldentod der meist aus Schülern und Studenten bestehenden Regimenter und erklärt die Opfer eines gnadenlosen Krieges zu Vorbildern für die deutsche Jugend.
Der Mythos von „Langemarck“ kann als Anfang vom Ende des Ersten Weltkrieges und der Herrschaft der Hohenzollern betrachtet werden. Mit dieser Propagandamaßnahme wurde das schöne, klassisch geformte „Lied der Deutschen“ kontaminiert und um seinen Ruf gebracht. Davon hat es sich nie mehr ganz erholt.