Alba de Céspedes´ „Das verbotene Notizbuch“ schildert die schmerzhafte Identitätssuche einer Frau, deren Leben eigentlich schon verplant ist. Nach fast sieben Jahrzehnten liegt nun endlich eine Neuübersetzung des bahnbrechenden Romans vor.
Ihr Mann nennt sie „Mamma“, die Mutter verachtet ihre kleinbürgerliche Existenz, Sohn und Tochter gehen längst eigene Wege: Valeria Cossati, die sich selbst gern als glückliche Tochter, Ehefrau und Mutter empfinden möchte, stellt eines Tages fest, dass ihr gesamtes Umfeld schon vor geraumer Zeit irgendwo abgebogen ist, ohne ihr Bescheid zu sagen. Nur sie selbst hält an dem einmal Vereinbarten fest und führt ein Leben voller Konventionen und Illusionen, bis sie ein unscheinbares Notizbuch ersteht. Verbotenerweise, denn am Sonntag darf der Kioskbesitzer eigentlich nur Tabak verkaufen.
Die einmalige Übertretung zieht bald weitere nach sich. Die 43-Jährige verheimlicht ihrer Familie nicht nur das Tagebuchschreiben, sondern auch die Wahrheit über die Einsamkeit und Verlorenheit ihres fremdbestimmten, „ausweglosen“ Lebens. Niemand erfährt etwas über die Träume von einem radikalen Neuanfang oder das oft vage und nur selten leidenschaftliche Verhältnis zu ihrem Chef.
Valeria selbst aber wird immer deutlicher, dass nirgendwo Platz und Zeit für ihre eigenen Bedürfnisse bleibt, schlimmer noch: dass Freundinnen und Familie überhaupt nicht auf den Gedanken kommen, sie könnte überhaupt Bedürfnisse haben, welche über die einer vermeintlich nur nebenbei berufstätigen und deshalb ewig verfügbaren Hausfrau hinausgehen.
Ich frage mich, ob ich für Michele noch eine lebendige Frau bin oder schon, wie seine Mutter, ein Porträt an der Wand.
Aus „Das verbotene Notizbuch“
Die Frage ist durchaus berechtigt, doch die Erzählerin erweitert sie im Verlauf des Romans und analysiert nicht nur die Verantwortung der Anderen, sondern auch das eigene Verschulden. Hat sie nicht selbst den Erwartungen allzu willfährig entsprochen? Warum weigert sie sich so lange, wenigstens der rebellischen Tochter ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen? Und ist sie wirklich bereit, die erschriebenen Erkenntnisse zu nutzen, um in Zukunft Entscheidendes zu verändern?
Die kleinen, alltäglichen Nichtigkeiten wahrzunehmen, heißt vielleicht, der Bedeutung des Lebens auf den Grund zu gehen. Allerdings weiß ich nicht, ob es etwas Gutes ist; ich fürchte nicht.
Aus „Das verbotene Notizbuch“
Die kubanisch-italienische Schriftstellerin, Journalistin und Frauenrechtlerin Alba de Céspedes hat mit diesem facettenreichen Psychogramm 1952 ein Schlüsselwerk weiblichen Erzählens geschaffen. Es ist umso spannender zu lesen, als die Ich-Erzählerin und ihre Eintragungen, die am 26. November 1950 beginnen und am 27. Mai 1951 abrupt enden, eher zur analytischen Betrachtung als zur Identifikation einladen. Die schnörkellose deutsche Übersetzung von Verena von Koskull lenkt den Blick immer wieder auf das Instrument der Selbsterkenntnis. Das Notizbuch ermöglicht Valeria, ihr bisheriges Leben aus einer völlig neuen Perspektive zu betrachten, es fungiert aber auch als Drehbuch, um künftige Entwicklungen zu modellieren.
Was Valeria Cossati mit diesen Chancen aus- und aufzubrechen am Ende anfängt, werden einige Lesende ernüchternd finden. Andere überraschend und wieder andere konsequent.
Man muss sich im Leben wohl für eine Grundhaltung entscheiden, sie vor sich und den anderen behaupten und dann alles damit unvereinbare Handeln und Tun vergessen. Man muss es vergessen. Meine Mutter sagt immer, wer kein gutes Gedächtnis hat, kann sich glücklich schätzen.
Aus „Das verbotene Notizbuch“
Alba de Céspedes: Das verbotene Notizbuch, Insel Verlag, 24 €