Ein Plan für zwei Kirchen

Wer glaubt, dass die großen Architekten des 19. Jahrhunderts nur in den Großstädten ihre Bauwerke verwirklichten, irrt gewaltig. Einer der bedeutendsten Baumeister des 19. Jahrhunderts war Conrad Wilhelm Hase (1818-1902). Zu seinen berühmtesten Bauten gehören die Marienburg in Pattensen, die Christuskirche und das Museum für Kunst- und Wissenschaft, beide in Hannover. Darüber hinaus entwarf und realisierte er Bahnhöfe und repräsentative Wohnhäuser. Den größten Teil seiner Tätigkeit bestritt er jedoch als Baubeauftragter der evangelischen Landeskirche.

Von 1863-98 ließ er 71 Kirchen restaurieren, 17 erweitern, 7 Friedhofskapellen und 76 Gotteshäuser in dem für ihn typischen Baustil errichten. Eine davon steht in Georgsmarienhütte vor den Toren Osnabrücks in einer ehemaligen Arbeiterkolonie. Und sie hat eine baugleiche Zwillingsschwester.

In den 1850er Jahren war Hase beteiligt an der Sanierung der lange vernachlässigten Klosterkirche in Loccum. Er nahm einige Zeit am Klosterleben teil und war durchdrungen von dem Gedanken, dass sich in der inneren und äußeren Gestaltung der Kirchen auch das Glaubensverständnis niederschlagen müsse. Die protestantischen Kirchen sollten keine „rationalen Sakralkirchen“, keine profanen Hörsäle sein, sondern religiöse Erlebnis- und Feierräume darstellen. Im Rückgriff auf den mittelalterlichen Baustil der Gotik sah er das Christentum in großer Vollkommenheit dargestellt.

Bauen nach Vorschrift

Als in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der einsetzenden Industrialisierung neue evangelische Kirchen gebaut werden mussten, begann eine Standardisierung in allen Bereichen, auch für die neuen Kirchenbauten sollten bestimmte Leitgedanken beachtet werden. Hase beteiligte sich intensiv an dem „Eisenacher Regulativ von 1861“, das in 16 Punkten die Standards für die neuen Kirchen festlegen sollte. Seine Ansprüche waren immens: Die Kirchen sollten nach Osten ausgerichtet sein, der Grundriss die Form eines Kreuzes haben, ein Turm dürfe nicht fehlen, die Orgel sollte sich dem Altar gegenüber auf einer Empore und die Kanzel sowie das Lesepult in gleicher Höhe am Übergang zum Gemeinderaum befinden. Der Haupteingang sollte sich im Westen befinden, so dass die Gottesdienstbesucher/innen sich in Würde dem Altar nähern können, auf dem der gekreuzigte Christus im Mittelpunkt stand.

Conrad Wilhelm Hase mit Familie und ehemaligen Schülern

1863 schließlich wurde Conrad Wilhelm Hase in eines der renommiertesten Ämter berufen, das damals für einen Architekten zu bekommen war: Er wurde Konsistorialbaumeister der Hannoverschen Landeskirche und damit zuständig für alle Kirchen im norddeutschen Raum. Als im Industriedorf Georgsmarienhütte wegen des Zustroms an evangelischen Arbeitern eine Kirche in den 1870er Jahren gebaut werden sollte, schöpfte Hase aus dem Vollen. Er begnügte sich nicht damit, die Bautätigkeit innerhalb der Kirche zu überwachen, sondern entwarf selbst und leitete z.T. auch die Bautätigkeit der einzelnen Projekte. Für die 2.000 evangelischen Seelen in Georgsmarienhütte entwarf er ein Gotteshaus, das viel zu groß und zu teuer für die gerade gegründete Gemeinde war. Enttäuscht wandten sich Pastor und führende Gemeindemitglieder erneut an den berühmten Baumeister und erbaten einen neuen Entwurf. Der aber ließ sich auf sich warten, Hase war schwer beschäftigt.

Die Kirche in Lauenau …

Frustriert brachen im Frühjahr 1876 drei Herren nach Hannover auf, um Hase persönlich zur Eile anzuhalten. Dieser nahm sich Zeit für den Besuch aus der Provinz, aber statt eines neuen Entwurfes, zog er einen Plan für eine Kirche aus der Tasche, die er eigentlich für Lauenau entworfen hatte. Dieses Kirchlein sollte nur 43. 500 Mark kosten. Ein Kostenrahmen, den alle drei für bewältigbar hielten. Sie nahmen die Zeichnung mit und noch im gleichen Jahr wurde mit dem Bau begonnen. Am 2. Juni 1878 fand die Einweihung der Lutherkirche statt, nur wenige Tage nach der Kirche St. Lukas in Lauenau.

… und ihr „Zwilling“ in Georgsmarienhütte

Aber entsprach die Kirche in Georgsmarienhütte den damaligen Richtlinien, dem Eisenacher Regulativ? Nicht ganz. Die Grundform des Kreuzes stimmte mit der Vorgabe überein, auch der Standort von Kanzel und Lesepult waren korrekt. Natürlich stand der gekreuzigte Christus auf dem Altar im Mittelpunkt und die Orgel befand sich gegenüber. Es gab einen passablen Turm und natürlich war die Kirche hochgewölbt und lichtdurchflutet, wie Hase es sich vorgestellt hatte. Der verbaute Hüttenschlackenstein war unverputzt, sowohl innen als auch außen – getreu dem sprichwörtlich gewordenen Hase-Motto „Putz ist Lüge“. Den ersten Punkt des Regulativs jedoch erfüllt die Kirche nicht.

Wo ist der Haupteingang?

Sie war nämlich nur annähernd geostet. Die in den Hang gebaute Kirche richtete sich in einem nicht unbedeutenden Stück nach Süden aus. Und auch beim Haupteingang erfüllte das Kirchlein nicht die Vorgaben Hases. Dort, wo das Eingangsportal sein sollte, befindet sich ein – allerdings kaum genutzter – Hintereingang. Der Haupteingang ist dagegen an der Längsseite in nordöstlicher Richtung und die Gottesdienstbesucher/innen nähern sich dem Altar nun ziemlich unspektakulär von der Seite.

Die evangelische Kirche und ihr Pastor wurden finanziell von dem Eisenhüttenwerk in Georgsmarienhütte unterstützt, bei dem die meisten Mitglieder der Gemeinde beschäftigt waren. Das Hauptverwaltungsgebäude des Werkes, leider 1902 abgebrannt, lag in einer schnurgeraden Sichtachse etwa 1 km vom „falschen“ Hauptportal entfernt. Jedes Mal, wenn Pastor und Gemeindeglieder ihre Kirche verließen, blickten sie auf das Verwaltungsgebäude des Werkes und wurden daran erinnert, wem sie das alles zu verdanken hatten. Diese Sichtachse wäre nicht zu realisieren gewesen, wenn die Kirche zu 100% geostet und der jetzige Hintereingang zum Haupteingang erklärt worden wäre.

Beschwerden, dass diese Abweichung vom Regulativ die Gläubigen in irgendeiner Form gestört oder ihnen geschadet hätte, sind bis heute nicht bekannt geworden …

Weiterführende Literatur:
Haase, Johannes: Chronik der evangelisch- lutherischen Gemeinde Georgsmarienhütte. Festschrift zum 25jährigen Kirchenjubiläum, Hannover 1903 / Meyer, Susanne, Schwerindustrielle Insel und ländliche Lebenswelt: Georgsmarienhütte 1856-1933, Münster 1991 / Müller, Hermann: Der Georgs- Marien- Bergwerks- und Hüttenverein, 2 Bde., Hannover 1896 und 1905 / Markus Jager, Thorsten Albrecht, Jan Willem Huntebrinker (Hrsg.): Conrad Wilhelm Hase (1818–1902): Architekt, Hochschullehrer, Konsistorialbaumeister, Denkmalpfleger, Petersberg 2019