Ein Schicksal mit Rissen und Sprüngen

1923 erschien Paul Zifferers Roman „Die Kaiserstadt“, 100 Jahre später veröffentlicht der Reclam-Verlag  nun eine kaum noch erwartete Neuauflage. In dem fesselnden Buch über den Verfall eines jahrhundertealten Machtzentrums erweist sich sein Autor als großer Erzähler und genauer Beobachter, erfahrener Psychologe und kluger Analytiker.

Wien, 1916: Seit er als „Austauschinvalide“ aus der Gefangenschaft zurückgekehrt und beim Begräbnis des alten Kaisers als „Druckeberger“ verspottet worden ist, ahnt Tony Muhr, dass er nicht mehr dazugehört. Mit seiner Gesundheit steht es nicht zum Besten, die übermütige Ehefrau Lauretta geht zunehmend eigene Wege und auch beruflich sieht Muhr schweren Zeiten entgegen. Der Unternehmer Theodor Katlein hat die Abwesenheit des promovierten Chemikers genutzt, um eine wegweisende Erfindung seines Angestellten selbst zum Patent anzumelden.

Es folgt eine verzweifelte Suche nach Verständnis, Wiedergutmachung, Gerechtigkeit – und einer Welt, von der nicht nur Tony Muhr den Eindruck hat, sie sei vor 1914 noch eine heile gewesen. Doch die Gewissheiten früherer Zeiten haben längst ihre Gültigkeit (oder den Anschein derselben) verloren. In der Machtzentrale der Habsburger, die Tony Muhr immer wieder durchwandert, regiert das Kapital, während alte Eliten ihre noch immer intakten Netzwerke pflegen und neue Kräfte auf die politische Bühne drängen.

Menschliche Werte und persönliche Bedürfnisse spielen in den chaotischen Auseinandersetzungen eine immer geringere Rolle. Es zählt allein, was nützlich und sofort verwertbar ist. Dass der grüblerische Gerechtigkeitsfanatiker Muhr bald als „so eine Art wienerischer Kohlhaas“ gilt und vor Gericht eine schmähliche Niederlage hinnehmen muss, ist im Grunde ohne Belang. Kurze Zeit später steht er bei seinem verhassten Prozessgegner wieder in Lohn und Brot, weil er für die kriegswichtige und lukrative Produktion von Nitroglycerin gebraucht wird.

Auch sein Privatleben entwickelt sich zu einer Berg- und Talfahrt. Kurz vor der unvermeidbar scheinenden Trennung nimmt das Verhältnis zu Lauretta eine unvorhergesehene Wendung. Die leidenschaftliche Affäre mit der Fürstin Maria Jadwiga Lubecka findet dagegen ein plötzliches Ende – und es sind durchaus seltsame Schlussworte der Geliebten, die in der 3. Person auf den Helden herabtröpfeln.

Ich bedaure Sie von Herzen, mein armes Kind. Da hat er nun richtig sein Spielzeug zerbrochen. Er ist zu unbedingt: immer mit dem Kopf durch die Wand … Sein Schicksal lässt sich nicht kneten, es bekommt gleich Risse und Sprünge. Nun bin ich also hergekommen, das ist alles, was ich für ihn noch tun konnte. Welch schlechte Luft! Und wie viel fade Interessantmacherei! Gott beschütze Sie.

Hat Wien und mit der Kaiserstadt ganz Österreich durch die Jahrhundertkatastrophe des Ersten Weltkriegs einen dramatischen Identitätsverlust erlitten oder war der gewaltige Aufwand rund um die schöne blaue Donau seit jeher Klischee oder bestenfalls Fassade? Muhr erinnert sich an die Äußerung eines alten Exzellenherrn, „Österreich sei vielleicht das Sichtbarwerden eines Sternes, den es in Wirklichkeit gar nicht mehr gebe.“ Ähnlich poetisch und noch ungefährer beschreibt es der Arzt Wolfgang Grabner:

Man kann das Leben nicht meistern, man kann ihm nur ausweichen. Wir Österreicher vertragen grobes Zugreifen nicht; denn ein Traum ist unser Erbteil. Unser Schicksal ist von einer fernen Laterna magica auf eine weiße Leinwand geworfen. So dauert Österreich fort: als Luftspiegelung, man darf es nicht anrufen und nicht die Hand danach ausstrecken, sonst zerrinnt es. Aber als Spiegelung ist es etwas sehr Schönes.

Tony Muhr hat der aussichtslose Kampf gegen das „komödienhafte Wienertum“ so zermürbt, dass er sich schließlich den Erfordernissen trüber Tage beugt, zumal sie gesellschaftlichen und finanziellen Profit abwerfen. Den Mann mit dem Steirerhütel, der ihn einst als „Druckeberger“ beschimpft und zwischenzeitlich mehrfach seinen Weg gekreuzt hatte, trifft er am Ende des Romans wieder. Zumindest für den Hutträger ist die Welt schon wieder in Ordnung.

A großer Tag, was! Ja, der Weaner geht net unter, wie man so sagt. Der Wilson wird scho’ an Frieden für uns auspantschen. Ist all’s so gut wie abg’macht, i waß’s von an, der’s waß.

Geschichte des sterbenden Alt-Wien

Paul Zifferer, 1870 im mährischen Bistritz geboren und knapp 50 Jahre später in Wien verstorben, war Gelegenheitsdichter, erfolgreicher Feuilletonist und ein angesehenes Mitglied der Wiener Gesellschaft, ehe er mit „Die fremde Frau“ (1916) auch als Romancier in Erscheinung trat. Sieben Jahre später folgte die Geschichte vom Untergang der Kaiserstadt, die Zifferer eloquent und bilderreich – aber gänzlich unaufgeregt und ohne simplifizierende Schuldzuweisungen in Szene setzte.

Ebenso bemerkenswert wie die multiethnische Perspektive, die einen schillernden Eindruck des Vielvölkerstaats vermittelt, ist die unverkrampfte Sicht auf das Mit- und Gegeneinander der Religionsgemeinschaften. Der Jude Paul Zifferer trug keine Bedenken, die Schurkenrolle mit einem jüdischen Unternehmer zu besetzen. Gleichzeitig ließ er die bedrohliche antisemitische Stimmung aufscheinen, die in Wien schon zu Beginn des Jahrhunderts grassierte und österreichischen Bürgern das Gefühl gab, ihre Herkunft verschweigen oder verleugnen zu müssen.

Die hervorstechendsten Charakteristika des Romans, der 1923 noch den Titelzusatz „Die Geschichte des sterbenden Alt-Wien“ trug, sind allerdings die vielschichtig und plastisch gezeichneten Personen, in denen sich das Lebensgefühl der Moderne staut. Der von allem und allen hin- und hergerissene, anständige und verlogene, lieblose und herzensgute, eitle und empathische Tony Muhr, sein gefühlskalter Widerpart Theodor Katlein und dessen triebgesteuerter Bruder Alexander, die gefallsüchtige Lauretta, ihr quirliger Bruder Rudi Saluzzo, Maria Jadwiga, deren Nähe und Ferne Tony gleichermaßen verunsichern, der Kellner Eduard, der seinen Sohn vor dem Krieg bewahren möchte, ihn doch nicht retten kann, der schließlich seine Vaterschaft bezweifelt und doch nur will, dass alle Menschen leben oder der aufdringliche, hinterhältige, geschäftstüchtige und gewalttätige Portier Bela Nagy werden den Leserinnen und Lesern noch lange nach Ende der Lektüre im Gedächtnis bleiben.

Die schön gestaltete, mit Quellen, Fotos und zwei kenntnisreichen Nachworten von Katharina Prager und Rainer Moritz versehene Neuausgabe holt einen großen Roman des 20. Jahrhunderts zurück ins Rampenlicht. Sie schürt darüber hinaus die Hoffnung, dass noch mehr Werke dieses bemerkenswerten Autors, etwa „Die fremde Frau“, die Erzählsammlung „Das Feuerwerk“ oder Zifferers letzter, zuerst in französischer Sprache erschienener Roman „Le saut dans l’inconnu“ (1927, übersetzt unter dem Titel „Der Sprung ins Ungewisse“) eine neue Chance bekommen.

Paul Zifferer: Die Kaiserstadt, Reclam, 397 Seiten, 28 €